"Die virtuelle Realität hat ein enormes Potenzial für die Berufsbildung"

Lerntechnologien (EdTech) wecken immer mehr Interesse bei Investoren und Bildungseinrichtungen. Pierre Dillenbourg, Vize-Präsident des Swiss Edtech Collider, erklärt, wie die Branche zur Weiterentwicklung der Schweizer KMU beitragen kann.

Ab den 2010er Jahren ging es bei den EdTech-Tools rasant aufwärts, beflügelt von neuen technischen Lösungen und vom schwierigen Zugang zu Bildung in bestimmten Regionen der Welt. Das Unternehmen HolonIQ, das auf die Analyse von Wirtschaftsdaten spezialisiert ist, schätzt die durchschnittliche Wachstumsrate der Ausgaben für diesen Bereich seit der Pandemie auf rund 16,3% pro Jahr, während es davor 13,1% waren. In der Schweiz setzt sich die Branche der Lerntechnologien vor allem aus sehr kleinen Firmen mit weniger als 10 Beschäftigten zusammen. Die von ihnen entwickelten Tools werden jedoch bei Investoren und Bildungseinrichtungen immer attraktiver. Pierre Dillenbourg, Vize-Präsident des Swiss Edtech Collider, dem etwa hundert Start-ups angehören, spricht über die Besonderheiten dieser Unternehmen in der Schweiz und über die Chancen, die sie den hiesigen KMU zu bieten haben.

Welche Funktion hat der Swiss Edtech Collider und warum ist er an der EPFL angesiedelt?

Pierre Dillenbourg: Der Swiss Edtech Collider ist vor allem eine Plattform für den Austausch zwischen Start-ups und anderen Akteuren wie Schulleitern, Verantwortlichen im Bereich Berufsbildung oder Führungskräften, die in den Betrieben für die Ausbildung zuständig sind. Es ging auch darum, den EdTech-Sektor zu fördern, der im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der neuen Technologien wie den FinTech wenig Sichtbarkeit auf dem Markt hatte.

Die Entscheidung für die EPFL war sehr naheliegend. Vor 30 Jahren war sie schon eine Pionierin auf diesem Gebiet und heute gehört sie zu den weltweit führenden Einrichtungen. Auch zwei der drei grössten Unternehmen für onlinebasiertes Sprachenlernen – Duolingo und Busuu – wurden von Alumni der EPFL gegründet.

Welche Innovationen sind bei den Investoren am gefragtesten?

Dillenbourg: Produkte und Dienstleistungen, deren Geschäftsmodell auf dem Verkauf zwischen Unternehmen (B2B) beruht, insbesondere im Bereich der Berufsbildung, locken immer mehr Investoren an. Ein Beispiel dafür ist Coorpacademy, deren Fokus auf digitaler Bildung in Unternehmen liegt und die 2022 von der australischen Firma Go1 übernommen wurde. Auch bei Dienstleistungen für Privatpersonen steigt das Interesse. Hier ist zum Beispiel Dynamilis (von VentureKick 2022 mit CHF 150'000 gefördert, Anm. d. Red.) zu nennen, das künstliche Intelligenz nutzt, um Lernschwierigkeiten zu erkennen und Kindern mit Schreibschwäche zu helfen, ihre Fähigkeiten zu verbessern.

Sind diese Instrumente auch für die Schweizer Schulen und Bildungszentren interessant?

Dillenbourg: Der Verkauf von EdTech-Produkten an staatliche Schulen bleibt relativ kompliziert, weil dafür bei jeder kantonalen Behörde ein eigenes Verfahren beantragt werden muss. Um eine neue Lerntechnologie landesweit einzuführen, sind also 26 verschiedene Verfahren erforderlich.

Es gibt dennoch Beispiele für die Nutzung solcher Technologien an staatlichen Schulen. Hier ist besonders der von der Firma Mobsya entwickelte Roboter Thymio zu nennen, mit dem die Schülerinnen und Schüler programmieren lernen können. Das Projekt war Teil einer Partnerschaft zwischen dem LEARN-Center der EPFL und den öffentlichen Schulen des Kantons Waadt.

Haben auch Schweizer KMU Zugang zu den mit EdTech entwickelten Dienstleistungen?

Dillenbourg: Im jetzigen Stadium ist es schwer vorstellbar, dass sich kleine Unternehmen Lernsysteme leisten können, die auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. In der Praxis stellen eher Grosskonzerne die neusten Technologien, zum Beispiel Videos oder Simulationen, den jeweiligen KMU zur Verfügung, mit denen sie zusammenarbeiten.

Andererseits können aber die Branchenverbände bei der Implementierung von EdTech-Tools in den KMU behilflich sein. Nehmen wir zum Beispiel einen kleinen Industriebetrieb, der von einem Virtual-Reality-System profitieren könnte, um einen digitalen Zwilling seiner Arbeitsräume oder seiner Produktionsabläufe zu erstellen. Eine Investition in ein solches System wäre für so ein Unternehmen sicher zu teuer. Wenn sich aber die Mitglieder des Branchenverbands auf kantonaler oder nationaler Ebene zusammentun, um den Dienst zu kaufen, kann man so eine Anschaffung in Erwägung ziehen.

Sie erwähnen das Thema virtuelle Realität. Entspricht diese Spitzentechnologie wirklich den Bedürfnissen von KMU?

Dillenbourg: Die virtuelle Realität hat ein enormes Potenzial für die Ausbildung bestimmter Berufsgruppen. Mit dieser Technologie lässt sich fast jede Situation simulieren, ohne dass man die nötigen Ressourcen verbrauchen muss, um in realen Situationen zu üben, und ohne sich potenziellen Gefahren auszusetzen. Das prägnanteste Beispiel ist der Flugsimulator, der schon lange in der Ausbildung und für das Training von Flugzeugpiloten eingesetzt wird.

Genauso haben wir auch schon Tests in einer VR-Umgebung für konventionellere Berufe wie Gärtner oder Zimmerleute durchgeführt. Letzteren hat die virtuelle Realität beispielsweise ermöglicht, die auf die Dachbalken wirkenden Kräfte zu visualisieren und so die Arbeiten für den Bau oder Abbau eines Daches bestmöglich zu planen.


Informationen

Zur Person/Firma

Pierre Dillenbourg, Assoziierter Vizepräsident für Bildung an der EPFL

Pierre Dillenbourg war ursprünglich Primarschullehrer, hängte dann 1986 noch einen Master in Erziehungswissenschaften an und schrieb 1992 seine Doktorarbeit in Informatik über künstliche Intelligenz im Bildungswesen. 2022 wurde er an der EPFL zum Professor ernannt. 2017 gründete der Schweiz-Belgier den Swiss Edtech Collider und wurde dessen Präsident. Seit 2021 ist er als assoziierter Vizepräsident für Bildung an der EPFL tätig.

Letzte Änderung 06.09.2023

Zum Seitenanfang

News und nützliche Informationen für Gründer und Unternehmer
https://www.kmu.admin.ch/content/kmu/de/home/aktuell/interviews/2023/die-virtuelle-realitaet-hat-ein-enormes-potenzial-fuer-die-berufsbildung.html