Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen oder infolge eines Unfalls lässt häufig sowohl bei Arbeitgebern wie auch bei Beschäftigten viele Fragen aufkommen. Wie lässt sich Missbrauch verhindern? Welche Pflichten hat die jeweilige Seite und wie geht man damit am besten um? Erläuterungen.
Die jährliche Fehlzeit aufgrund von Krankheit oder Unfall pro Arbeitsplatz ist in der Schweiz in den letzten Jahren gestiegen: von 44,3 Stunden im Jahr 2010 auf 65,7 Stunden im Jahr 2022. Während einer Arbeitsunfähigkeit sind Arbeitnehmende in der Schweiz eine gewisse Zeit lang vor einer ordentlichen Kündigung geschützt. Sie müssen aber weiterhin ihre Treue- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem Arbeitgeber erfüllen.
Bei einem Arbeitsausfall geht es also zunächst darum, den Grund (Berufsunfall, Nichtberufsunfall, Krankheit usw.) und die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit festzustellen. Häufig wird hierfür ein ärztliches Attest verlangt, also ein Dokument, durch das der Arbeitgeber die Situation verstehen und die erforderlichen Massnahmen treffen kann. "In einem zweiten Schritt sollte geklärt werden, welche rechtlichen und finanziellen Folgen der Arbeitsausfall hat", sagt Matthias Meier, Rechtsanwalt in der Kanzlei Bachmann Rechtsanwälte in Zürich. "Insbesondere ob eine Versicherung, z.B. die Krankentagegeldversicherung bei Krankheit, leistet oder ob weiterhin der Lohn gezahlt werden muss."
Treuepflicht
Grundsätzlich haben arbeitsunfähige Beschäftigte dieselben Treue- und Sorgfaltspflichten wie diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie weiterhin im Interesse des Arbeitgebers handeln müssen und nicht für ein Konkurrenzunternehmen arbeiten dürfen. Ferner gilt auch hier der Grundsatz, dass ohne Arbeitsleistung kein Lohn gezahlt wird. Der Arbeitnehmer muss also den Nachweis erbringen, dass er nicht in der Lage ist zu arbeiten, was in der Regel über das erwähnte ärztliche Attest erfolgt.
Ein Beispiel für einen regelmässig vorkommenden Verstoss gegen die Treuepflicht ist ein Arbeitnehmer, der trotz einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit einer anderen Erwerbstätigkeit nachgeht (gerade bei einem längerem Arbeitsausfall und/oder während der Kündigungsfrist) oder in den Urlaub fährt und damit seine Genesung gefährdet. "In solchen Fällen sollte sofort geklärt werden, ob das Verhalten erlaubt ist. Es hängt immer vom Einzelfall ab, vor allem von der Ursache und dem Ausmass der Arbeitsunfähigkeit."
Sorgfalt und Verhältnismässigkeit
Bei einem Verdacht auf einen Verstoss gegen die Treuepflicht sollte man zunächst ein Gespräch mit der betreffenden Person anberaumen. Der Arbeitgeber kann auch eine sogenannte interne Untersuchung durchführen. Bei einem solchen Verfahren muss auf jeden Fall der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. Die häufigsten Massnahmen bestehen darin, eine ärztliche Untersuchung durch einen Vertrauensarzt anzuordnen, möglicherweise die E-Mail-Korrespondenz zu überprüfen oder Kollegen zu befragen, sagt der Rechtsanwalt. Der Arbeitgeber muss jedoch vorsichtig sein, besonders was die Auswertung von E-Mails angeht, damit die Beschäftigten nicht in ihrem Recht auf Privatsphäre verletzt werden. Auf unzulässige Weise erhaltene Beweise können abgelehnt werden.
Wenn der Arbeitgeber begründete Zweifel an der Richtigkeit eines ärztlichen Attests hat, kann er eine Untersuchung des Beschäftigten durch einen Vertrauensarzt veranlassen. Die Kosten für eine solche Untersuchung trägt in diesem Fall der Arbeitgeber.
Man muss jedoch wissen, dass der Vertrauensarzt der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt. "Das bedeutet, dass der Arzt nur sagen kann, ob und in welchem Umfang eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, wie lange diese voraussichtlich andauert und ob sie unfall- oder krankheitsbedingt ist, heisst es bei der Suva, einer der grössten Unfallversicherungen in der Schweiz. "Die Arbeitnehmer können nicht zu einer solchen Untersuchung gezwungen werden. Wenn sich aber jemand weigert, zu einem Vertrauensarzt zu gehen, obwohl die Aufforderung objektiv gerechtfertigt war, darf man grundsätzlich davon ausgehen, dass er arbeitsfähig ist, sodass sein Anspruch auf Lohnfortzahlung entfällt."
Wird tatsächlich ein Pflichtverstoss festgestellt, so muss die gewählte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zum Fehlverhalten der betreffenden Person stehen. "Bei einem leichten Verstoss gegen die Treuepflicht kann eine Ermahnung ausreichen", sagt die Suva. "Andere Sanktionen kommen auch in Betracht, unter anderem eine Verwarnung oder letztlich auch eine Kündigung. Wenn der Arbeitnehmer zum Beispiel seine Arbeit nicht wieder aufnimmt, nachdem er sich von einer vollen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit erholt hat, kann das unter bestimmten Umständen sogar eine fristlose Kündigung rechtfertigen. In einigen Fällen kann die betreffende Person auch zu Schadenersatz verpflichtet werden." Vor einer fristlosen Kündigung ist aber der Arbeitnehmer auf jeden Fall zur Wiederaufnahme der Tätigkeit aufzufordern.
"Entscheidend ist, den Sachverhalt zu klären und nicht unüberlegt zu handeln", betont der Rechtsanwalt Matthias Meier. "Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, solche Fälle sofort zu behandeln und sie nicht erst ein paar Tage oder Wochen liegen zu lassen, denn damit nimmt man sich gewisse Handlungsmöglichkeiten, und das Schadenpotenzial kann steigen." Das gilt zum Beispiel für den Fall, dass eine sofortige Kündigung als Option in Betracht kommt. "Ich empfehle jedoch, eine Rechtsberatung einzuholen, bevor man eine sofortige Kündigung ausspricht, denn wenn sich diese als ungerechtfertigt herausstellt, müssen in der Regel Entschädigungen gezahlt werden."
"Das gegenseitige Verständnis ist im Allgemeinen grösser, wenn beide Seiten offen miteinander kommunizieren", so die Suva. "Bei einem Rechtsstreit ist eine möglichst vollständige schriftliche Dokumentation aus Sicht des Arbeitsrechts unerlässlich; deshalb wird empfohlen, in schwierigen Situationen schriftlich zu kommunizieren."
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Zum Thema
Zahl der Berufsunfälle und -krankheiten bleibt stabil
Im letzten Jahr haben die bei der Suva versicherten Unternehmen etwa 494'000 Unfälle und Berufskrankheiten gemeldet (+ 0,3% im Jahresvergleich). Im Einzelnen zählte die Versicherung über 186'000 Berufsunfälle und Berufskrankheiten, 292'000 Freizeitunfälle sowie mehr als 15'000 Fälle von Personen, die arbeitslos gemeldet waren oder an IV-Massnahmen teilnahmen.
Letzte Änderung 02.09.2024