Michelle Kolb leitet das Schweizer Projekt EnableMe Jobs, zu dem die Jobbörse EnableMe.myAbility.jobs gehört. Seit 2022 hilft diese Online-Plattform Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten bei ihrer Jobsuche. Das Entscheidende ist deren Inklusion.
Im Frühjahr 2022 hatte die harte Kritik der UNO an der Schweiz für Aufsehen gesorgt, da die Organisation insbesondere eine zu zögerliche Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) angemahnt hatte, das 2014 ratifiziert worden war. Das Leben der 1,7 Millionen Menschen mit sichtbarer oder unsichtbarer Behinderung, das schon im Alltag anstrengend ist, wird noch komplizierter, wenn es darum geht, eine Arbeit zu finden, was aber ein entscheidendes Element für ihre Inklusion und ihre Lebensqualität ist. Die vor 19 Jahren gegründete gemeinnützige Stiftung MyHandicap schloss sich mit der Karriereplattform für Studierende und junge Absolventen MyAbility zusammen, um eine Stellenbörse speziell für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten aufzubauen. Michelle Kolb, Leiterin dieses Portals namens EnableMe.myAbility.jobs, erklärt, wie diese Menschen damit beim Erreichen ihrer beruflichen Ziele unterstützt werden.
Warum haben Sie diese Plattform ins Leben gerufen?
Michelle Kolb: Laut dem Bundesamt für Statistik ist die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen am ersten Arbeitsmarkt signifikant geringer als die von Menschen ohne Behinderung (72% gegenüber 87%). Für die Betroffenen müssen noch viele Hürden im Bereich der Jobsuche, von der Einrichtung des Arbeitsplatzes bis zur Anpassung der Arbeitszeiten, überwunden werden. Die grösste Herausforderung hängt jedoch immer noch mit dem Blick der Unternehmen und Personaler zusammen. Allerdings wollen die Unternehmen die Diversität in ihren Teams zunehmend fördern. EnableMe.myAbility.jobs ist ein Ort, an dem sich motivierte und talentierte Stellensuchende und inklusive Unternehmen begegnen können.
Welche Rolle spielt die Plattform bei Unternehmen?
Kolb: Menschen mit Behinderungen machen rund 20% der Schweizer Bevölkerung aus. Für die Arbeitgeber bedeutet das, dass es hier einen Pool an Talenten mit grossem Potenzial gibt. Die Unternehmen bringen jedoch manchmal ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass sie nicht wissen, was genau sie zu erwarten haben, wenn sie sich an diese Menschen wenden, und sie wollen vermeiden, sich dabei zu irren. Das Team von EnableMe und myAbility kann ihnen helfen, auf dem Weg der Inklusion weiter voranzuschreiten. Unsere Plattform begleitet sie bei ihrem Vorhaben und berät sie persönlich, um an die jeweilige Situation angepasste Lösungen zu finden. Unser Team, das sich selbst aus Menschen mit ganz unterschiedlichen Profilen zusammensetzt, gibt Antworten auf wichtige Fragen.
Was können Unternehmen und speziell KMU machen, um Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, dass sie ihre beruflichen Ziele erreichen?
Kolb: Zunächst einmal ist es wichtig, dass die Geschäftsführung die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in ihre Agenda aufnimmt und darauf achtet, das gesamte Team einzubeziehen. Sie muss dem Thema ausserdem mit einer offenen Haltung begegnen und darf keine Angst haben, einen Schritt in Richtung mehr Diversität zu gehen. Inklusion beinhaltet einen Lernprozess, der nicht schon von Anfang an perfekt vorbereitet sein kann. Das Wichtigste ist, dass man sich auf den Weg macht und diese Zielgruppe aktiv anspricht. Es braucht ein klares Signal vonseiten der Unternehmen, um Fachkräfte mit Behinderungen für sich zu gewinnen. Als betroffene Person muss ich die Gewissheit haben, dass ich bei der Personalauswahl oder später in meinem beruflichen Werdegang nicht benachteiligt werde.
Welches Feedback haben Sie von der Zielgruppe bekommen?
Kolb: Die Reaktionen sind absolut positiv, denn die betroffenen Personen sind glücklich über den Zugang zu einer Plattform, auf der ihre Kompetenzen zur Geltung gebracht werden. Eine Userin erzählte mir vor Kurzem, dass dieses spezialisierte Portal in ihren Augen unabhängig von ihrem eigenen Fall ein wichtiger Schritt zu mehr Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt ist.
Was wäre insgesamt nötig, um die Beteiligung von Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen am Erwerbsleben zu erleichtern?
Kolb: Die grössten Hürden sind immer noch in den Köpfen und es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, um eine echte Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft zu erreichen. Menschen mit Behinderungen sind eine grosse und zugleich sehr heterogene Gruppe. Auch kann ihre gesundheitliche Beeinträchtigung sichtbar oder unsichtbar, temporär oder dauerhaft, statisch, wiederkehrend oder degenerativ sein und mit Schmerzen verbunden sein oder auch nicht. Kurz gesagt: Behinderungen sind Teil unseres Lebens und können jeden von uns jederzeit betreffen. Diese Erfahrung machte ich selbst mit 21 Jahren, als bei mir eine unheilbare Augenerkrankung diagnostiziert wurde. Da war ich gerade mitten im Studium. Wir müssen erkennen, dass es ein Thema ist, das uns alle betrifft.