Sind IT-Spezialisten Mangelware? Der Pool an Fachleuten leert sich jedenfalls immer schneller, da der Bedarf in allen Branchen zunimmt, nicht nur in den IT-Dienstleistungsfirmen. Höchste Zeit zu reagieren, warnt Serge Frech, Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz.
Cybersicherheit, Softwareentwicklung, Architektur von IT-Systemen, Netzwerkmanagement... Trotz der vielversprechenden Karriereaussichten fehlt es in den Berufen der Informationstechnologien (IT) bzw. Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) an Fachkräften, und die Zahl der Absolventinnen und Absolventen pro Jahr reicht nicht mehr aus, um den in allen Branchen herrschenden Mangel zu beheben. Die Nachfrage nach Profilen mit IT-Ausrichtung, die durch die Auswirkungen der Gesundheitskrise auf die Arbeitswelt noch erhöht wurde, nimmt ausserdem in allen Bereichen weiter zu. Die Schweiz hat das lange durch das Anwerben ausländischer Fachkräfte kompensiert, doch das wird künftig nicht mehr genügen: Wenn man nichts tut, werden bis 2030 rund 40'000 IT-Fachleute fehlen, prognostiziert ICT-Berufsbildung Schweiz, die nationale Organisation, die für alle in den Berufen der Informatik und der Digitalwirtschaft verliehenen eidgenössischen Berufsabschlüsse zuständig ist. Erläuterungen von Geschäftsführer Serge Frech.
Welche Branchen sind von diesem Mangel an Fachkräften betroffen?
Serge Frech: Zur IT gehören alle Berufe, die mit der Planung, Implementierung, Gestaltung sowie dem Betrieb von Informatiksystemen und Kommunikationstechnologien im weiteren Sinne befasst sind. Dabei arbeiten nur 34% der IT-Fachleute für Firmen, die in der eigentlichen IT-Branche angesiedelt sind, also bei IT-Dienstleistern. Die übrigen sind in allen Bereichen der Wirtschaft, aber auch in der Verwaltung und im Bildungssektor tätig. Hinzu kommen alle Unternehmen, die dabei sind, sich zu digitalisieren oder bestimmte Aufgaben zu automatisieren, insbesondere in den Bereichen Versicherungen, Finanzen und Handel. In allen Branchen nimmt der Bedarf stetig zu.
Haben alle Arten von Unternehmen Probleme bei der Rekrutierung?
Frech: Der Mangel betrifft alle Bereiche in unterschiedlicher Weise. Heute sind mehr als 246'000 Menschen in einem IT-Beruf beschäftigt. Laut der jüngsten Ausgabe der Branchenstudie, die wir seit zehn Jahren durchführen, werden 2030 jedoch mindestens 300'000 Fachleute in diesem Bereich benötigt, wobei der Anstieg der Nachfrage eher zu niedrig bewertet wurde. Ein Unternehmen wie Google wird natürlich weniger Schwierigkeiten bei der Suche nach Informatikern haben als ein KMU, das sich kaum an die Arbeitsbedingungen und Karrierechancen anpassen kann, die ein Branchenriese zu bieten hat. Andererseits werden auch die Grossen Mühe damit haben, mehrere hundert IT-Fachleute einzustellen und noch schwerer wird es sein, diese auch zu halten. Der Pool ist ganz einfach ausgeschöpft: Bis 2030 werden in der Schweiz rund 40'000 Informatiker fehlen.
Hat das Einfluss auf die Gehaltsbedingungen?
Frech: SwissICT gibt jedes Jahr eine Studie zu diesem Thema heraus. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass die Unternehmen mittlerweile bei den Löhnen an eine Art Obergrenze stossen, nachdem es jahrelang immer weiter nach oben ging. Die Arbeitgeber wollen über eine bestimmte Schwelle nicht mehr hinausgehen und versuchen, die Bewerberinnen und Bewerber durch andere Faktoren zu überzeugen: Flexibilität, gute Arbeitsbedingungen, angenehmes Betriebsumfeld...
Ist der Rückgriff auf ausländische Fachkräfte eine Lösung?
Frech: Die Schweiz hat lange Zeit Talente aus dem Ausland angeworben. Betrachtet man die gesamte Branche, so haben 32% der Beschäftigten eine ausländische Nationalität, während der Durchschnitt für die gesamte Wirtschaft bei 26% liegt. Diese Fachkräfte sind hier also deutlich überrepräsentiert. Doch auch wenn sie eine wertvolle Stütze sind, ist das langfristig keine Lösung. Zum einen gehen immer mehr von ihnen in andere Länder wie die Niederlande oder nach Skandinavien. Zum anderen sind diese internationalen Fachleute tendenziell besonders mobil, sodass man sie nur schwer halten und an das Unternehmen binden kann. Es geht darum, unsere Fähigkeiten zur Ausbildung von genügend Schweizer Spezialistinnen und Spezialisten auszubauen, indem wir sowohl die Grundbildung als auch die Weiterbildung entsprechend nutzen.
In den ICT-Berufen ist der Frauenanteil weiterhin gering. Kann es helfen, die Nachfrage zu bedienen, indem man mehr junge Frauen anspricht?
Frech: Frauen machen 17% der ICT-Fachleute aus, aber gewisse besonders hartnäckige Stereotypen halten sich weiterhin: Wie in anderen naturwissenschaftlichen Fachrichtungen werden die Tech-Berufe immer noch oft mit einer Männerwelt assoziiert, was dazu beiträgt, dass sich junge Frauen dagegen entscheiden. Um sie zu gewinnen, ist es wichtig, die Vorteile einer Karriere in dieser Branche stärker hervorzuheben: attraktives Gehalt, sehr hohe Flexibilität, Entwicklungsperspektiven und die Möglichkeit, nützliche Lösungen zu erarbeiten, zum Beispiel in enger Verbindung mit den Anwendern.
Ist das der Grund, warum ICT-Berufsbildung Schweiz die Organisation seiner EFZ angepasst hat?
Frech: Die Grundbildung verändert sich fortlaufend, um auf den Bedarf der Wirtschaftsunternehmen und der IT-Branche zu reagieren, mit denen wir über regionale Verbände regelmässig in Kontakt stehen. Wir haben die EFZ-Lehre für Informatiker und Mediamatiker reformiert und insbesondere an der Umsetzung eines neuen EFZ "Entwickler/in digitales Business" gearbeitet, der im Januar 2023 an den Start geht. Das Ziel ist, junge Leute für berufliche Prozesse auszubilden, die in der Lage sind, Anfragen von Nutzern zu analysieren, um Prozesse und Produkte so zu konzipieren, dass sie auf den jeweiligen Bedarf zugeschnitten sind. Die grösste Herausforderung bei diesen Reformen besteht darin, ein Bedürfnis erkennen zu können, um eine passende Antwort darauf zu finden.
Welche weiteren Änderungen halten Sie für notwendig?
Frech: Diese regelmässigen Anpassungen bleiben insofern entscheidend, als 80% der Fachleute, die auf den Arbeitsmarkt kommen, eine dieser Berufsbildungen absolviert haben. Das wird aber nicht reichen, um den Bedarf der Unternehmen zudecken, der schneller zunimmt, als wir reagieren können. Neben der Erhöhung der verfügbaren Ausbildungsplätze müsste man auch die Zahl der Absolventen auf allen Ausbildungsstufen verdoppeln. Und nicht zuletzt müsste es darum gehen, Umschulungen zu fördern und die Weiterbildung auszubauen, um am Ende die digitale Autonomie des Landes zu gewährleisten. Ich denke auch, dass die Politik sich dringend um dieses Thema kümmern sollte, um den gesamten Ausbildungsbereich zu begleiten.