"Unvollständige Verträge bringen langwierige Verhandlungen mit sich"

Gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen höherer Gewalt, wie etwa Pandemien, können sich KMU mit speziellen Klauseln im Vertrag sowie durch vorausschauendes Risikomanagement absichern.

Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen behördlichen Massnahmen haben bei vielen Unternehmen zu Störungen der betriebswirtschaftlichen Abläufe geführt. Diese Störungen manifestieren sich etwa in Lieferengpässen, die im schlimmsten Fall zu Produktionsausfällen führen können, oder in der Abwesenheit von Mitarbeitenden, sei es durch Krankheit oder durch Home-Office. Somit stellen sich für die Unternehmen konkrete vertragsrechtliche Fragen, wie zum Beispiel die Frage nach der Verantwortung, wenn ein Kunde nicht fristgerecht beliefert werden kann.

Die Pandemie hat auch gezeigt, dass es sinnvoll ist, Ereignisse, die mit «höherer Gewalt» in Verbindung gebracht werden können, im Vorfeld vertraglich zu bestimmen, um im Ernstfall für alle Vertragsparteien klare Leitlinien für das weitere Vorgehen zu haben. Patrick Thommen, Jurist und Inhaber von Thommen Law & Risk Management, zeigt im Interview die vertragsrechtlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und unterstreicht die Wichtigkeit eines vorausschauenden Risikomanagements für KMU, wozu auch die Gestaltung der Verträge gehört.

Die Covid-19-Pandemie hat bei vielen KMU zu Lieferengpässen und zu Produktionsausfällen geführt. Welche Probleme auf vertragsrechtlicher Ebene tun sich dabei für die Unternehmen auf?

Patrick Thommen: In der Tat haben vor allem KMU aus dem industriellen oder dem technologischen Sektor seit Ausbruch der Pandemie mit Verzögerungen bei ihren Lieferanten zu tun, was im schlimmsten Fall zum Ausfall ganzer Produktionsschritte führt. Dies bedeutet für diese Unternehmen, dass sie gegenüber ihren Kunden bestimmte Leistungen verspätet oder gar nicht erbringen können. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob Verträge noch eingehalten werden können und ob zum Beispiel Schadenersatz geleistet werden muss. Problematisch dabei ist, dass in der Schweiz viele Verträge zwischen Geschäftspartnern auf KMU-Ebene ohne Zuhilfenahme eines Juristen verabschiedet werden. Das kann zur Folge haben, dass unter anderem für Ereignisse höherer Gewalt, auch «Force-Majeure-Ereignisse» genannt, wie etwa die aktuelle Covid-19-Pandemie, keine konkreten vertraglichen Regelungen hinsichtlich der Folgen und der weiteren Vorgehensweise für die Vertragspartner bestehen.

Welche Regelungen greifen bei solchen Force-Majeure-Ereignissen, wenn diese nicht im Vorfeld vertraglich festgelegt wurden?

Thommen: Das Schweizer Recht ist diesbezüglich wortkarg, es gibt im Wesentlichen zwei Regelungen, auf die in solchen Fällen verweist wird. Im Werkvertragsrecht steht dazu, dass bei ausserordentlichen Umständen, die nicht vorhergesehen werden konnten und die Fertigstellung des Werks hindern oder übermässig erschweren, eine Preiserhöhung oder eine Vertragsauflösung von einem Richter bewilligt werden kann. Für die übrigen Vertragsverhältnisse gilt im Obligationenrecht für Ereignisse höherer Gewalt, die einen Lieferverzug oder eine Nicht-Erfüllung der vereinbarten Leistung nach sich ziehen, dass der Schuldner nicht schadensersatzpflichtig ist. Allerdings muss dieser bereits im Rahmen des Geschäftsverhältnisses erhaltene Geldzahlungen an den Gläubiger zurückzahlen. Auf jeden Fall bringen im Hinblick auf Force-Majeure-Ereignisse unvollständige Verträge langwierige Verhandlungen zwischen den Vertragspartnern mit sich, im schlimmsten Fall vor dem Richter.

Wie können sich KMU gegenüber solchen Ereignissen vertraglich absichern?

Thommen: Es ist wichtig, im Vertrag so genau wie möglich zu definieren, was für die Geschäftspartner unter den Begriff der höheren Gewalt fällt. Epidemien oder Pandemien gehören definitiv dazu. Die Vertragspartner sollten darüber hinaus genau festhalten, was passiert, wenn die Leistung bedingt durch ein Force-Majeure-Ereignis nicht oder verspätet erbracht werden kann. Solche Klauseln können dementsprechend die Gewährung einer Nachfrist, die Suspendierung des Vertrags, ein Kündigungsrecht oder die Befreiung von Schadenersatzpflichten für solche Fälle vorsehen. Treten solche Fälle ein, können sich die Parteien dann konkret auf diese Klauseln beziehen.

Kann es auch von Vorteil sein, sich zusätzliche Versicherungen zu leisten?

Thommen:  Da bin ich bezüglich einer allgemeingültigen Antwort vorsichtig. Eine Betriebsunterbruchversicherung deckt die finanziellen Folgen von Betriebsunterbrüchen, und zwar direkte Kosten wie entgangener Gewinn. Eine solche kann für eine Vielzahl von Risiken abgeschlossen werden und lohnt sich für Unternehmen, die keine Ausweichmöglichkeiten für ihre Produktion haben. In der Regel sind Schäden infolge höherer Gewalt aber von der Versicherungsdeckung ausgeschlossen, sie können aber separat bzw. zusätzlich versichert werden. In der aktuellen Lage und mittelfristig wäre eine spezielle Zusatzversicherung für Umsatzausfälle aufgrund einer Pandemie wohl nur mit entsprechend hohen Prämien zu bekommen.

Ich möchte dies an einem Beispiel aus der Schifffahrt verdeutlichen: Reedereien, die oft am Horn von Afrika unterwegs sind, zahlen sehr viel, um sich gegen Piraterie oder kriegerische Ereignisse zu versichern – die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse und die damit verbundenen Kosten sind einfach zu hoch. Die beste Versicherung für KMU gegenüber Ereignissen höherer Gewalt sind Ausweichmöglichkeiten und klare vertragliche Verhältnisse.

Welche zusätzlichen Massnahmen können KMU dabei helfen, sich gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen gut aufzustellen?

Thommen: Ein weiteres wichtiges Thema ist der plötzliche Wegfall von Schlüsselfiguren des Unternehmens – aktuell kann dies verstärkt durch eine Covid-19-Erkrankung der Fall sein. KMU sollten sich Notfallpläne für die Fortführung des Betriebs erstellen. Darin sollten vor allem folgende Fragen geregelt sein: Wer ist für die Fortführung des Betriebs zuständig? Ist die Stellvertretung geregelt? Wo befinden sich die wichtigsten Unterlagen und Passwörter? Wer sind die Schlüsselkunden und -lieferanten, die im Notfall bezüglich etwaiger Lieferverzögerungen kontaktiert werden müssen? Die Schreiben dafür sollten im Idealfall schon vorverfasst sein. Allgemein gilt: Gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen können sich KMU am besten durch vorausschauendes Risikomanagement schützen, das so viele denkbare Szenarien wie möglich umfasst. Dieses vorausschauende Handeln sollte sich auch in allen Verträgen widerspiegeln.


Informationen

Zur Person/Firma

Patrick Thommen, Jurist

Patrick Thommen ist Inhaber der Thommen Law & Risk Management mit Sitz in Luzern. Dank seiner langjährigen Erfahrung als Unternehmensjurist und Risk Manager in der Industrie (Rüstung, Luft- und Raumfahrt, IT und Logistik) beratet er Unternehmen in den Gebieten des Vertrags-, Arbeits- und des Immaterialgüterrechts. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in Lizenz-, Vertriebs- und Kooperationsverträgen.

Letzte Änderung 03.03.2021

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