"Um Streit zu vermeiden, muss man sich immer an die Mission der Firma erinnern"

Konflikte zu vermeiden oder zu lösen, ist für das langfristige Überleben eines Unternehmens entscheidend. Erläuterungen von Nadine Reichenthal, Expertin für Entrepreneurship.

Arbeitsbeziehungen können manchmal in eine Krise geraten, sei es zwischen Kunden und Lieferanten oder zwischen Gesellschaftern und Investoren. Es entstehen Konfliktsituationen, welche die finanzielle Gesundheit der Firma oder sogar ihr Überleben gefährden können. Nadine Reichenthal, Dozentin und Coach für Entrepreneurship, verrät einige Erfolgsrezepte für friedliche berufliche Beziehungen.

Welche Bedeutung hat die Beziehungsebene für den Erfolg eines Unternehmensprojekts?

Nadine Reichenthal: Dieser Aspekt spielt eine grosse Rolle. Bei den Start-ups, die ich begleite, liegt dem Scheitern in der Regel kein schlechtes Produkt zugrunde, sondern eine Unstimmigkeit zwischen den Gründungspersonen.

Glauben Sie, dass die Schweizer Unternehmerinnen und Unternehmer sich dieses Thema ausreichend bewusst machen?

Reichenthal: Die meisten wissen wahrscheinlich um die grosse Bedeutung des Beziehungsaspekts, aber sie nutzen nicht unbedingt alle Techniken, mit denen sich das gegenseitige Verständnis verbessern lässt. Das ist umso wichtiger, wenn man es mit kulturellen Unterschieden zu tun hat, manchmal schon zwischen Westschweizern, Deutschschweizern und Tessinern, aber noch häufiger mit Partnern oder Kunden aus dem Ausland.

Wie gehen Sie das Thema mit den Projektverantwortlichen an, die Sie coachen?

Reichenthal: Ich organisiere von Anfang an verschiedene Aktivitäten, die spielerischer Art sein können oder auf Techniken des Neurolinguistischen Programmierens beruhen, sowie weitere Instrumente aus der Persönlichkeitsentwicklung, damit die Teilnehmer lernen, wie sie sich besser kennenlernen können. Zum Beispiel gibt es ein Selbsteinschätzungs-Tool, bei dem Farben mit psychologischen Eigenschaften verbunden werden: Wer sich als Mensch der Tat begreift, zieht einen roten Stein, wer prozessorientiert handelt, nimmt einen blauen, und wer den emotionalen Aspekten viel Bedeutung schenkt, wählt einen grünen. Diese Farben helfen dabei, sich selbst zu verstehen und auch zu begreifen, wie andere reagieren und was uns bei einem anderen ärgern kann. Dass man diese Unterschiede einbeziehen kann, ist enorm wichtig, um ein vertrauensvolles Klima zu schaffen und effizient zusammenzuarbeiten, obwohl sich die jeweiligen Vorgehensweisen mitunter stark unterschieden.

Nehmen wir ein paar konkrete Beispiele. Wie kann man seine eigene Sicht am besten verteidigen, wenn es eine Meinungsverschiedenheit mit einem Investor gibt?

Reichenthal: Man muss sich immer daran erinnern, worauf man sich anfangs in Bezug auf die Mission, die Vision, die Werte und die Ziele des Unternehmens verständigt hat. Wenn einer oder mehrere dieser Punkte von unwägbaren äusseren Faktoren beeinträchtigt werden, muss man damit beginnen, die Situation zu erklären, wozu grundsätzlich jeder in der Lage ist. Wenn Sie sich dagegen nicht an die Leitlinien des Projektes gehalten haben, liegt der Fehler bei Ihnen. Dann ist es wichtig, dass man in der "Ich"-Form spricht, seine Gefühle einsetzt und seine Überzeugungen mitteilt, ohne sich zu verstellen.

Wie lässt sich ein Konflikt zwischen Gesellschaftern lösen?

Reichenthal: Auch hier müssen die Gesellschafter zu der Vereinbarung zurückfinden, die sie zu Beginn des Projektes getroffen haben. Es geht darum "die Scheidung vor der Hochzeit zu regeln", indem man einen Aktionärspakt schliesst, um eindeutig festzulegen, wer welche Mittel und Kompetenzen einbringt und was passiert, wenn einer aussteigen will. Wer das nicht macht, wird das in der Regel teuer bezahlen. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mit jedem meiner Kursteilnehmer einen Vertrag unterzeichne, der unsere gegenseitigen Verpflichtungen hinsichtlich der Teilnahme an den Sitzungen oder der Erbringung der Leistung regelt.

Was ist mit Meinungsverschiedenheiten mit einem Kunden oder Lieferanten?

Reichenthal: In diesem Fall ist es genauso wichtig, dass man sich auf Punkte stützen kann, die schwarz auf weiss festgehalten wurden, zum Beispiel in einem Vertrag oder einer weniger förmlichen Vereinbarung. Man sollte sich immer darum kümmern, von einem Treffen ein Protokoll zu erstellen und zu verschicken oder nach einer Entscheidung eine kurze E-Mail mit einer Zusammenfassung zu schreiben. Das Ziel ist zu vermeiden, sich später in einer Situation wiederzufinden, in der "Aussage gegen Aussage" steht. Ich zeichne zum Beispiel alle Videokonferenzen auf, an denen ich teilnehme. Ausserdem nutze ich gerne die "Sechs-Hüte-Methode", die von dem Psychologen Edward de Bono entwickelt wurde. Das ist eine Methode, bei der man ein Problem nach verschiedenen Denkweisen analysiert: neutral, emotional, optimistisch, kritisch, kreativ, überblickend... und am Schluss werden alle Argumente zusammen gesichtet.

Viele Unternehmen greifen heute auf Mediation zurück, um Konflikte zu lösen. Was halten Sie von dieser Management-Methode?

Reichenthal: Das ist eine sehr angenehme Lösung, denn in der Regel kann man damit eine Lösung finden, ohne dass jemand das Gesicht verliert. Mediatoren haben die Fähigkeit dafür zu sorgen, dass die Parteien Abstand zu dem Problem gewinnen, und achten sehr genau darauf, dass alle mit der Lösung zufrieden sind. Dieser Ansatz ist umso interessanter, als die Umsetzung nicht besonders teuer ist.

Lohnt es sich, interne Mechanismen zur Prävention und zum Management von Konflikten einzuführen? Wenn ja, in welcher Phase des Unternehmens?

Reichenthal: Ja, auf jeden Fall. Ich führe gleich in der ersten Woche der Begleitung eines Start-ups Debriefing-Sessions ein. Es ist wichtig, diese Sitzungen auch langfristig regelmässig abzuhalten (mindestens einmal im Jahr), zum Beispiel direkt vor der Generalversammlung. Die Organisation dieser Sitzungen liegt in der Verantwortung des CEO und nicht beim Personalmanager. Ich sorge zudem dafür, dass eine 360°-Bewertung durchgeführt wird, sobald es um eine Entscheidung geht, welche sich dauerhaft auf die Werte oder die Vision eines Start-up auswirken wird.

Welche Tipps würden Sie Unternehmerinnen und Unternehmern geben, die ihre Beziehungskompetenz stärken und Konflikte vermeiden wollen?

Reichenthal: Beziehungen beruhen in erster Linie auf Vertrauen. Ist dieses einmal gebrochen, lässt es sich nur schwer wieder herstellen. Darum ist es wichtig, dass man authentisch ist, Transparenz fördert und seine Verpflichtungen einhält. Ich gebe Ihnen zum Schluss ein tibetisches Sprichwort mit: "Wenn es für ein Problem eine Lösung gibt, hat es keinen Sinn, sich darüber Sorgen zu machen; wenn es keine Lösung gibt, wird es nichts ändern, sich darüber Sorgen zu machen."


Informationen

Zur Person/Firma

Nadine Reichenthal, Dozentin und Coach für Entrepreneurship

Nadine Reichenthal lehrt Entrepreneurship an den Universitäten Lausanne und Genf, wo sie auch den Accelerator "Entrepreneurship Lab" leitet. Sie ist in vielen Strukturen zur Begleitung von Business-Projekten oder firmeninternen Projekten, ob gewinnorientiert oder nicht, als Trainerin, Coach oder Expertin in der Schweiz sowie in Asien und Afrika tätig. Die Mitgründerin des Programms "Graines d'entrepreneurs" für Jugendliche ist zudem an zahlreichen Programmen zur Förderung von Unternehmerinnen beteiligt.

Letzte Änderung 18.08.2021

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