Einige Unternehmen fühlen sich von den grossen Dachverbänden der Schweizer Wirtschaft nicht gut vertreten, da sie zu wenig einbezogen werden und nicht immer deren politische Standpunkte teilen. "Der Gewerbeverein" erhofft sich durch seinen Ansatz mehr Demokratie und will so seinen Mitgliedern Gehör verschaffen.
Seit seiner Gründung im Jahr 2019 engagiert sich "Der Gewerbeverein" für kleine und mittlere Unternehmen in der Schweiz, die zu einer nachhaltigeren Wirtschaft beitragen wollen. Mit knapp 1'200 Mitgliedern in der ganzen Schweiz sieht sich der Verein als Alternative zu den grossen Wirtschaftsverbänden und konzentriert sich unter anderem darauf, seine Mitglieder besser in seine politischen Stellungnahmen einzubeziehen. Ein Gespräch mit Christophe Barman, seit Frühjahr 2023 Co-Präsident des Vereins.
Wie würden Sie die Positionierung von "Der Gewerbeverein" in der Wirtschaft zusammenfassen?
Christophe Barman: Wir stehen aufseiten der Unternehmen, die möchten, dass sich die Wirtschaft stärker im Kampf gegen den Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit engagiert. Vor dem aktuellen Hintergrund und den Verpflichtungen der Schweiz beim Thema CO2-Neutralität scheint es unvorstellbar, dass sich Unternehmen keine Gedanken über die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Umwelt und Gesellschaft machen. Das muss auch über einen Paradigmenwechsel in der Politik des Bundes und der Kantone geschehen, durch den der Übergang zu einer stärker zirkulären Wirtschaft, die weniger natürliche Ressourcen verbraucht, massiv unterstützt werden kann.
Der Verein will Unternehmen vertreten, die sich als nachhaltig und progressiv ansehen, aber es reicht zu sagen, dass man diesem Credo folgt, um Mitglied zu werden. Wie kann man wissen, ob Ihre Mitglieder ihre Versprechen auch einhalten?
Barman: Zum jetzigen Zeitpunkt unterliegt der Beitritt jedes Mitglieds einer Überprüfung durch den Vorstand, aber mehr passiert nicht. "Der Gewerbeverein" versteht sich als inklusive Organisation und plant keine Audits, um zu bewerten, wie sehr seine Werte bei jedem seiner Mitglieder zum Tragen kommen. Wenn es ein Unternehmen sinnvoll findet, unserem Verein beizutreten, nehmen wir es gern bei uns auf. Es geht nicht nur darum, dass wir unsere Einflusssphäre nicht einschränken wollen, sondern wir versuchen zu vermeiden, dass wir in unserer eigenen Blase bleiben, indem wir uns nur an die wenden, die sowieso schon überzeugt sind.
Mit welchen Mitteln vertreten Sie die Interessen Ihrer Mitglieder auf Ebene der nationalen Politik?
Barman: Unternehmen, die Wert auf Nachhaltigkeit legen, fehlt es oft an Sichtbarkeit. Es kommt vor, dass grosse Konkurrenzunternehmen, die in Sachen Nachhaltigkeit weniger leisten, aber über eine bessere Kommunikation verfügen, auf dem Markt bevorzugt werden. Wir setzen uns insbesondere dafür ein, dass der Bund einen anerkannten Status als nachhaltige Unternehmung schafft, der sich an den bereits in Italien, Frankreich und Spanien verabschiedeten Rechtsrahmen orientiert. Ein solcher offizieller Status würde es ermöglichen, klare und objektive Nachhaltigkeitskriterien für Unternehmen festzulegen. Ausserdem werden wir unseren Mitgliedern andere Projekte zur Prüfung vorlegen, unter anderem eine Fortsetzung der Initiative "verantwortliche Multinationale Unternehmen", den Kampf gegen die explodierenden Kosten für Zahlungsmittel wie Karte oder Twint, den Einsatz für eine bessere Einbindung der Prinzipien der Kreislaufwirtschaft in das Umweltschutzgesetz oder auch das Prinzip der differenzierten Mehrwertsteuer (differenzierte MWST-Sätze können die Steuerlast auf grundlegende Güter und Dienstleistungen senken und regen dazu an, weniger Produkte zu konsumieren, die gesundheits- oder umweltschädlich sind, Anm. d. Red).
"Der Gewerbeverein" hat sich für ein System direkter Demokratie entschieden, um seine politische Ausrichtung zu beschliessen. Worin besteht dieses System?
Barman: Jede Stellungnahme im Namen des Vereins wird den Mitgliedern zur Beratung gegeben. Auch in dieser Hinsicht heben wir uns von den grossen Dachverbänden ab, die sich mit einem zentralisierten Entscheidungsprozess in einem kleinen Ausschuss begnügen.
Im Frühling haben wir beispielsweise eine Petition für eine Revision der gestiegenen Zinssätze für Covid-Darlehen lanciert (im April 2023 wurden die Zinsen für Kredite bis zu CHF 500'000 von 0% auf 1,5% und für höhere Summen von 0,5% auf 2% angehoben, Anm. d. Red.). Da der Entwurf von einer Mehrheit unserer Mitglieder befürwortet wurde, haben wir beschlossen, weiterzumachen. Jetzt liegt die Petition beim Bundesrat, der noch entscheiden muss, ob er sich damit befassen wird. Wie dem auch sei, wir haben gemäss unserem demokratischen Ansatz die Meinung aller unserer Mitglieder eingeholt.
Welche anderen Vorteile bieten sich den KMU, wenn sie bei "Der Gewerbeverein" eintreten?
Barman: Im Moment stellen wir unseren Mitgliedern zum Beispiel einen digitalen Marktplatz zur Verfügung. Die Idee ist, dass die Unternehmen dort im Sinne einer Kreislaufwirtschaft im Direktvertrieb Materialien und Produktionsmittel anbieten und kaufen können. Ausserdem haben wir eine Jobbörse aufgebaut, um die Rekrutierung geeigneter Fachkräfte innerhalb unseres Netzwerks zu erleichtern. Darüber hinaus arbeiten wir schon an einer geplanten Pensionskasse für unsere Mitglieder, die 2025 an den Start gehen könnte.
Als Westschweizer Unternehmer wurden Sie vor Kurzem zum Co-Präsidenten von "Der Gewerbeverein" gewählt. Was war Ihre Aufgabe?
Barman: Der Verein, der von zwei Deutschschweizern – Aline Trede und Michel Gygax – gegründet wurde, war anfangs vor allem in der Deutschschweiz tätig. Nachdem die Idee jenseits des Röstigrabens überzeugen konnte, nahmen die damaligen Präsidenten Kontakt zu mir auf, um das Projekt in der Westschweiz voranzubringen. Innert wenigen Monaten stieg die Zahl der Westschweizer Mitglieder von 40 auf 500, was einen überraschenden und erfreulichen Erfolg darstellt. In Zukunft wollen wir unsere Aktivität auch im Tessin ausbauen.