"In KMU ist das Risiko sexueller Belästigung höher als in Grossunternehmen"

Das Obligationenrecht, das Arbeitsgesetz und das Gleichstellungsgesetz verlangen von den Arbeitgebenden, Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität ihrer Mitarbeitenden vorzunehmen. Manchmal haben die Unternehmen jedoch Mühe bei deren Umsetzung. Der Leiter des Präventionsprogramms KMU konkret+, Aner Voloder, erklärt, warum die Sensibilisierung von Führungskräften und Mitarbeitenden so wichtig ist.

Ein aktueller Bericht des Bundesrates zum Ausmass des Phänomens in der Schweiz kommt zu dem Ergebnis, dass 5% der Fälle sexueller Belästigung im beruflichen Kontext stattfinden. Knapp 90% der Betroffenen sind Frauen. Die schädlichen Folgen führen mitunter zu schweren körperlichen und psychischen Leiden. Obwohl Bewegungen wie #MeToo eine Bewusstseinsbildung und gewisse Fortschritte ermöglicht haben, bleibt es unerlässlich, Unternehmen für dieses heikle Thema zu sensibilisieren, um auf ein wichtiges gesellschaftliches Problem zu reagieren, das auch vor der Arbeitswelt nicht Halt macht. In Zürich hat die Fachstelle für Gleichstellung ein Projekt mit dem Namen KMU konkret+ entwickelt, das sich speziell an KMU richtet, die manchmal nicht über das nötige Handwerkszeug verfügen, um das Phänomen zu erkennen, Risiken vorzubeugen und ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Erläuterungen von Aner Voloder, Jurist und Leiter des Projekts.

Was genau ist das Projekt KMU konkret+?

Aner Voloder: Sein Ziel besteht darin, die Bekämpfung von sexueller und sexistischer Belästigung im beruflichen Umfeld zu unterstützen, indem speziell die Führungskräfte und die Mitarbeitenden von KMU angesprochen werden. Es geht sowohl darum, das Tabu zu einem heiklen Thema aufzuheben und auf Unsicherheiten in Bezug darauf zu reagieren, was sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz genau ist. Durch das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Art. 4) ist diese seit 1995 verboten. Die ganze Philosophie des Programms beruht auf einer konkreten Behandlung dieser Frage. Das ist das beste Mittel, um die Unternehmenskultur dauerhaft in Richtung eines respektvollen Umgangs mit allen zu entwickeln.

Wie wird das erreicht?

Voloder: Nach einem Theorieteil, bei dem alle Mitarbeitenden noch einmal über ihre Rechte und Pflichten informiert werden, bietet KMU konkret+ situative Übungen an. Mit Hilfe von Rollenspielen lernen Führungskräfte, eine problematische Situation rechtzeitig zu erkennen, ihr vorzubeugen und gegebenenfalls einzugreifen, um den betroffenen Personen zu helfen. Diese kurzen Szenen geben den Mitarbeitenden die Möglichkeit, sich nicht nur der verschiedenen Formen von sexueller Belästigung bewusst zu werden und Reaktionen darauf zu erlernen, sondern sie regen auch dazu an, das eigene Verhalten zu hinterfragen und zu überlegen, was dazu führt, dass einige dazu neigen, die Tatsachen herunterzuspielen.

Geht es eher um Prävention oder darum, wie ein Chef oder eine Chefin eines Unternehmens in einem konkreten Fall vorgehen sollte?

Voloder: Beides! KMU konkret+ bietet zwei verschiedene Weiterbildungsprogramme an. Das erste Modul, das sich an Führungskräfte richtet, ist so konzipiert, dass sie über ihre gesetzlichen Verpflichtungen auf den Gebieten Prävention, Intervention und Schutz der Mitarbeitende Bescheid wissen. Das zweite Modul richtet sich an die Mitarbeitenden und hat zum Ziel, diese über ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Das Programm sieht auch eine dritte Phase vor, die den KMU helfen soll, ihr betriebsinternes Reglement zu verfassen oder anzupassen und sicherzustellen, dass dieses dem gesetzlichen Rahmen entspricht. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Belästigung nicht immer von Kollegen und Kolleginnen ausgeht, sondern auch von Kundschaft oder Geschäftspartnerinnen und -partnern. In jedem Fall ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, sich um das Thema zu kümmern, um seine Mitarbeitenden zu schützen.

Warum ist es wichtig, sich beim Thema sexuelle und sexistische Belästigung besonders an KMU zu wenden?

Voloder: Mehr als 99% aller Firmen in der Schweiz sind KMU. Die jüngsten Studien zu dem Thema zeigen, dass in KMU das Risiko sexueller Belästigung höher ist als in grösseren Unternehmen, da letztere über mehr Ressourcen und über eigene Abteilungen und Fachleute verfügen, um diesem Problem zu begegnen. KMU unterliegen aber denselben Verpflichtungen wie Grosskonzerne. Daher ist es notwendig, sie zu unterstützen, damit ein Wandel in der Praxis gelingen und die Zahl der betroffenen Personen reduziert werden kann.

Wie ist das Programm entstanden und mit wem arbeiten Sie zusammen?

Voloder: Wir haben uns in weiten Teilen von der Pionierarbeit des Büros zur Förderung der Gleichstellung und der Gewaltprävention (BPEV) des Kantons Genf zu einem ähnlichen Angebot inspirieren lassen. Wir arbeiten auch mit der Abteilung Chancengleichheit des Kantons Appenzell Ausserrhoden und der Abteilung Integration und Gleichstellung des Kantons St. Gallen zusammen. Ausserdem werden Vereine, Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften sowie diverse Fachleute einmal im Jahr zu einem Treffen eingeladen, um die Entwicklung des Programms auf den neusten Stand zu bringen. Die erste Weiterbildung fand im Juni 2021 statt und seitdem konnten mehr als 150 Führungskräfte und 500 Mitarbeitende aus rund zwanzig Unternehmen in der Deutschschweiz an KMU konkret+ teilnehmen. 2023 wird rund ein Dutzend weiterer Unternehmen davon profitieren.

Ist die in diesem Paket enthaltene finanzielle Förderung entscheidend?

Voloder: Die meisten Unternehmen, die uns kontaktieren, tun dies, ohne zu wissen, dass ihnen unser Angebot zu sehr günstigen Konditionen bereitgestellt wird. Der Kostenfaktor scheint also nicht ausschlaggebend zu sein. Die Tatsache, dass der grössere Teil der Kosten durch Finanzhilfen nach dem Gleichstellungsgesetz abgedeckt wird und wir so eine Weiterbildung für CHF 200 bis CHF 1'000 – je nach Firmengrösse – anbieten können, ist aber natürlich ein klarer Vorteil, vor allem in wirtschaftlich unsicheren Zeiten.


Informationen

Zur Person/Firma

Aner Voloder, Projektleiter KMU konkret+

Aner Voloder machte seinen Abschluss als Jurist an der Universität Zürich und spezialisierte sich auf Fragen der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt. Nach mehreren Jahren im Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) wechselte er 2010 in die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Seit 2021 ist er dort insbesondere für das Projekt KMU konkret+ zuständig.

Letzte Änderung 18.01.2023

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