"Die Schweiz darf bei immersiven Technologien nicht den Anschluss verpassen"

Immer mehr Unternehmen entwickeln Technologien im Bereich der virtuellen Realität. Die Schweiz bleibt auf diesem Gebiet jedoch noch zögerlich. Nathaly Tschanz, Programmleiterin am Immersive Realities Center der Hochschule Luzern (HSLU), spricht über die Chancen, die dieses Paralleluniversum für KMU bieten kann.

Das Thema virtuelle (oder immersive) Realität, auf der unter anderem auch das Metaverse basiert, wurde seit dem Start des Chatroboters ChatGPT von der künstlichen Intelligenz etwas in den Hintergrund gedrängt, doch im Technologiesektor ist das Interesse daran weiterhin hoch. In Zürich beschäftigen beispielsweise die amerikanischen Riesen wie Google, Meta oder Magic Leap mehrere hundert Personen in Forschung und Entwicklung (F+E). Die am 6. März 2023 lancierte Swiss Metaverse Association (auch Metassociation genannt) will darüber hinaus die Entwicklung des Metaverse in der Schweiz fördern. Der Anteil der in diesem Bereich tätigen Unternehmen ist nämlich nur halb so hoch wie im internationalen Durchschnitt, wie aus einer kürzlich von Deloitte durchgeführten Studie hervorgeht. Um insbesondere KMU beim Entdecken der Potenziale Immersiver Technologien zu begleiten und ihnen die Entwicklung einer passenden Strategie zu ermöglichen, hat die Hochschule Luzern (HSLU) 2018 einen Forschungscluster aufgebaut: das Immersive Realities Center. Prof. Nathaly Tschanz erläutert die Herausforderungen der virtuellen Realität für die Schweizer Unternehmen.

Inwiefern sind die Schweizer KMU an der Gründung dieser virtuellen Universen beteiligt?

Nathaly Tschanz: In den letzten Jahren sind in der Schweiz viele kleine und mittlere Unternehmen, darunter auch Start-ups, entstanden. Diese Firmen leisten Beachtliches für den Technologiesektor, insbesondere im Bereich der Produktion von Inhalten sowie bei der Entwicklung von Software-Anwendungen und Hardware. Im Hinblick auf Qualität und Innovation ist die Schweiz sehr gut aufgestellt, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten. Immersive Technologien erfordern vielfältige Kompetenzen und die KMU hierzulande sind hervorragend darauf vorbereitet, neue Innovationen rasch aufzunehmen.

Wie können die KMU diese Technologien in ihren Alltag integrieren?

Tschanz: Die Anwendungsbereiche sind sehr unterschiedlich. Tätigkeiten können beispielsweise in einer sicheren virtuellen Umgebung trainiert werden. Unser Forschungslabor hat beispielsweise kürzlich eine Virtual Reality-Trainingsapplikation entwickelt für eine NGO, deren Ziel es ist, die Versorgung mit Impfstoffen in Entwicklungsländern sicherzustellen. Impfstoffe müssen auf fieberauslösende Inhaltsstoffe getestet werden. Hierfür werden häufig Tierversuche durchgeführt, die durch neue Techniken ersetzt werden könnten. Die VR-Anwendung ermöglicht den Mitarbeitenden, die neue Testtechnik zu erlernen, bevor sie in den täglichen Betrieb integriert wird. Eine solche Schulung macht es möglich, dieselben Gesten unendlich oft zu wiederholen, ohne dass Abfälle entstehen oder teilweise sehr teures Material verwendet werden muss. Die virtuelle Realität kann auch genutzt werden, um Online-Meetings zu verbessern und teure und energieintensive Reisen zu vermeiden. Im Bereich der Visualisierung können Augmented und Virtual Reality zum besseren Verständnis eines Projekts beitragen. Wenn zum Beispiel ein Architekt einem Kunden ein Bauprojekt vorschlägt, ist dank der Virtual Reality eine virtuelle Begehung des Gebäudes vor dem Beginn der Bauarbeiten möglich, was unter anderem bei der Entscheidungsfindung hilft.

Können alle Wirtschaftszweige von den Dienstleistungen profitieren, die das Immersive Realities Center anbietet?

Tschanz: Ja, die Unternehmen, die in unser Center kommen, um sich mit der Hard- und Software vertraut zu machen, decken verschiedene Sektoren ab, vom medizinischen Bereich über die öffentliche Verwaltung bis hin zu den NGO. Wir fördern auch Workshops zur Ideenbildung und bieten berufsbegleitende Weiterbildungen zu Themen wie Virtual und Augmented Reality, Metaverse und Digital Twins an.

Würden Sie sagen, dass sich immersive Technologien in der Schweiz durchsetzen?

Tschanz: Das hängt von den Unternehmen ab. Vergleichbar mit dem Einzug des Internets und der Smartphones ruft jede technologische Revolution eine gewisse Begeisterung hervor, schürt aber auch einige Ängste und Vorbehalte. Es ist wichtig, die Unternehmen zu begleiten, damit sie nicht zu sehr in Rückstand geraten, sie bei diesem Übergang zu unterstützen und ihnen zu helfen, erste Erfahrungen zu sammeln. Dieser Schritt ist entscheidend, damit die KMU hierzulande beim Thema immersive Technologien nicht den Anschluss verpassen. Der nötige Wissenserwerb kann nicht von heute auf morgen gelingen; dafür ist ein echter Lernprozess erforderlich. Die Unternehmen müssen in der Lage sein, sich auf diese neue Art von User Experience vorzubereiten, sich mit den neuen Möglichkeiten, aber auch mit den damit verbundenen Herausforderungen vertraut zu machen.

Einige Unternehmen beginnen damit, digitale Zwillinge beziehungsweise "Digital Twins" zu erschaffen. Wie bewerten Sie das Potenzial dieses Instruments?

Tschanz: Digital Twins können insofern für die Produktion nützlich sein, indem Verfahren getestet werden können, um die Prozesse vor dem Beginn der tatsächlichen Fertigung zu optimieren. Im Rahmen eines Forschungsprojekts haben wir mit einigen KMU zusammengearbeitet, um digitale Zwillinge zu entwickeln und zu testen. Wir haben unter anderem einem Hersteller von kundenspezifischen Holzbauteilen dabei geholfen, seine Personal- und Maschinenplanung zu optimieren. Dank des Digital Twins konnten die Planung und der Materialfluss vom Empfang der Waren bis zum Versand der fertigen Produkte visualisiert werden. Durch diesen Vorgang konnten auch die Integration neuer Maschinen in das System simuliert und die Auswirkungen auf die Funktionsweise der Produktion sowie auf die Wartung der Anlagen des Unternehmens vorhergesagt werden.


Informationen

Zur Person/Firma

Nathaly Tschanz, Programmleiterin am Immersive Realities Center

Nathaly Tschanz war zunächst Sekundarlehrerin und kam 2010 mit dem Thema Immersive Realität in Berührung. Nach einem Zweitstudium im Bereich neue Medien hatte sie verschiedene Posten inne, unter anderem als Leiterin der Online-Redaktion des Deutschschweizer Magazins "Beobachter". 2018 wechselte sie in den Hochschulbereich, zunächst an die Fachhochschule Graubünden, bevor sie 2021 zum Team "Immersive Realities" an der Hochschule Luzern (HSLU) stiess, wo sie als Professorin und Programmleiterin für mehrere Weiterbildungslehrgänge tätig ist.

Letzte Änderung 03.05.2023

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