Nur eine Minderheit der Schweizerinnen und Schweizer traut sich wirklich, sich auf das Abenteuer einer eigenen Firma einzulassen. Wie lässt sich diese anhaltende Scheu erklären? Erläuterungen von Rico Baldegger, Experte für Management.
Die Bereitschaft zur Firmengründung nimmt in der Schweiz wieder etwas zu. 2021 beabsichtigten 13,4% der Personen, die im Rahmen der Studie Global Entrepreneurship Monitor (GEM) für die Bewertung der unternehmerischen Tätigkeit in 115 Ländern befragt wurden, sich in den kommenden drei Jahren selbstständig zu machen, während es 2020 nur 7,3% waren. Doch diese Entwicklung zeugt auch von einem Mangel an Begeisterung oder sogar von einem Misstrauen der Schweizer Bevölkerung gegenüber dem Unternehmertum. Rico Baldegger, der seit 2008 für den Schweizer Teil des GEM zuständig ist, spricht über die Herausforderungen einer solchen Entscheidung in der Schweiz.
Laut den jüngsten Ergebnissen der Studie sehen nur 40% der Schweizer Erwerbsbevölkerung das Unternehmertum als gute Karrierewahl an, während dieser Anteil im Durchschnitt der Länder mit hohem Einkommen bei 60% liegt. Worauf ist dieser Unterschied zurückzuführen?
Rico Baldegger: Da die Schweizer Wirtschaft robust und krisenfest ist, gibt es hier mehr und bessere Jobs als in anderen Ländern, und zwar so viele, dass nur wenige Menschen ein Bedürfnis nach einer eigenen Firma verspüren. Im Moment stellen wir fest, dass diese Tendenz bei den Jüngeren noch stärker ausgeprägt ist. Diese Generation legt mehr Wert auf eine gute Work-Life-Balance und will lieber einen stabilen und gut bezahlten Job. In anderen Ländern mit hohem Einkommen wie zum Beispiel Kanada oder Grossbritannien hat der Arbeitsmarkt nicht so bequeme Bedingungen zu bieten. Viele machen sich dort also entweder aus der Not heraus selbstständig oder mit dem Ziel, ihre finanzielle Situation zu verbessern.
Spielen nicht auch Unterschiede in der Kultur und der Mentalität eine Rolle?
Baldegger: Natürlich. In der Schweiz wird der Schritt ins Unternehmertum nach wie vor oft als sehr gewagte oder unvernünftige Entscheidung wahrgenommen. Die Unternehmer selbst haben auch manchmal das Gefühl, unvorsichtig zu sein, wenn sie sich für die Selbstständigkeit entscheiden. Ausserdem neigen die Menschen in der Schweiz dazu, einen Konkurs ausschliesslich unter dem Aspekt des Scheiterns zu betrachten, was viele Ängste schürt und die Erwerbsbevölkerung nicht ermutigt, ein solches Risiko einzugehen. In Ländern wie den USA oder Israel geht man damit ganz anders um: Eine Firmenpleite wird dort eher zu einer positiven Erfahrung, auf die sich die Unternehmer stützen können, um ihre weitere Karriere aufzubauen.
Ist es denn aber auch für einen jungen Menschen, der gerade erst mit der Ausbildung fertig ist, vernünftig, direkt ein Unternehmen zu gründen?
Baldegger: Die junge Generation ist eine wichtige Quelle für Innovationen. Wenn sie die Mittel dazu haben, können sie beispielsweise Experten einbeziehen, als Ausgleich für ihre fehlende Erfahrung auf diesem Gebiet. In den meisten Fällen ist es jedoch ratsam, zunächst als Angestellter ein gewisses Mass an Erfahrung zu sammeln und sich erst danach an die Unternehmensgründung zu wagen. Statistisch gesehen stammen die besten Firmengründer aus der Altersgruppe zwischen 35 und 44 Jahren, und zwar in allen vom GEM untersuchten Ländern. Mit einer gewissen Erfahrung steigt die Erfolgsquote an.
Das wirtschaftliche Umfeld in der Schweiz ist dem Bericht von GEM zufolge günstig. Wie lässt sich die Motivation für Firmengründungen erhöhen?
Baldegger: Ich sehe drei Punkte, die es zu verbessern gilt. Erstens wäre es nötig, die Behördengänge noch ein bisschen einfacher zu machen und den Zugang zu Informationen für Unternehmensgründer zu verbessern, der mitunter noch fehlt, sodass der Gründungsprozess komplizierter wird oder länger dauert. Zweitens unterschätzen die Unternehmerinnen und Unternehmer oft das Potenzial, das sich ihnen durch Partnerschaften mit kleinen und mittleren Unternehmen bieten könnte. In der Praxis würde es beispielsweise darum gehen, sich Mentoring-Programme für Jungunternehmer zu überlegen, in denen KMU eine zentrale Rolle spielen, aber auch darum, Investitionen über von den kantonalen Behörden eingerichtete Inkubatoren zu begünstigen. Mit mehr als 600'000 KMU ist es in der Schweiz ganz klar in unserem Interesse, den Nachwuchs zu fördern. Und schliesslich müssten auch Bildung und Ausbildung dazu beitragen, dass sich mehr Menschen zum Unternehmertum berufen fühlen. Ein früherer Kontakt mit der Geschäftswelt, um die Schülerinnen und Schüler schon in der Oberstufe mit diesen Kreisen vertraut zu machen, scheint mir dabei eine grundlegende Aufgabe zu sein.
Welche Auswirkungen hatte die Gesundheitskrise auf das Unternehmertum im Allgemeinen?
Baldegger: Die Schweizer Wirtschaft hat den Schock relativ gut abgefedert. Auch wenn einige Unternehmen leider schliessen mussten, haben es die meisten ohne allzu grosse Schäden überstanden. Die Beschränkungen waren weniger streng als in anderen Ländern, sodass viele Unternehmen trotz allem ihren Betrieb aufrechterhalten konnten. Dennoch hat die Gesundheitskrise den Zugang zu Finanzierungen erschwert. Heute sind die Investoren viel ängstlicher als davor. Und man muss sagen, dass die Pandemie nicht die einzige böse Überraschung war, mit der die Unternehmen in den letzten drei Jahren konfrontiert waren. Heute müssen sie zusätzlich mit der Energiekrise und der Inflation zurechtkommen. Wir haben allerdings noch zu wenig Abstand dazu, um genau bewerten zu können, wie sich diese Faktoren auf die Bereitschaft zur Unternehmensgründung auswirken.
Während in den Jahren 2011 und 2014 die Parität zwischen Gründerinnen und Gründern erreicht worden war, sind die Männer heute wieder in der Mehrheit. Wie lässt sich dieser Rückgang bei den Frauen erklären?
Baldegger: Das ist eine sehr komplexe Frage. Eine Erklärung sind wahrscheinlich die vielen Finanzierungen, die die öffentliche Hand und die Privatinvestoren im Hochtechnologie-Sektor getätigt haben, wo Frauen deutlich unterrepräsentiert sind. Mittlerweile sind jedoch die neuen vorherrschenden Themen bei den Start-ups Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft, Ernährung und Gesundheit, die zu den bevorzugten Branchen der Frauen gehören. Ich sehe daher die Möglichkeit, dass sich der Trend langfristig umkehren wird, sodass vielleicht in den kommenden Jahren in der Schweiz die Mehrheit der Neugründungen durch Frauen erfolgen wird.