"Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutet Brexit zunächst einmal Desintegration"

Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union war für die Schweizer Wirtschaft eine grosse Herausforderung. Doch wie wirkte er sich letztlich auf die Schweizer Unternehmen aus? Welche Folgen sind heute noch zu spüren? Antworten von Thomas A. Zimmermann, der beim SECO die Verhandlungen Schweiz-UK im Handelsbereich verantwortet.

Das Vereinigte Königreich (UK) ist der achtgrösste Partner der schweizerischen Exportindustrie. 2021 erreichten die Exporte im Warenhandel (ohne Gold) ein Volumen von CHF 7,8 Milliarden, was 3% des gesamten Exportvolumens ausmacht. Importseitig ist das Land für die Schweiz der neuntgrösste Lieferant mit Importen in Höhe von CHF 4,3 Milliarden im 2021, also rund 2,2% der Gesamteinfuhren (ebenfalls ohne Gold). Bezieht man den Goldhandel mit ein, sind die Werte noch um Einiges höher und erreichen für Exporte und Importe zusammen ein Gesamtvolumen von 46 Mrd. CHF, was 7,2% des Gesamthandels der Schweiz entspricht. Ausserhalb des Goldhandels sind die Sparten Chemie-Pharma, Präzisionsinstrumente – insbesondere Uhren – und Maschinen die wichtigsten Gruppen für den Warenaustausch. Im Dienstleistungsbereich sind die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern ebenso intensiv: Hier stehen Lizenzen, Transport, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen sowie Beratung und IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) ganz oben. Direktinvestitionen sind ein weiterer wichtiger Bestandteil dieser Beziehungen.

Vor diesem Hintergrund eines intensiven Austauschs musste sich der Bund auf den Austritt des UK aus der Europäischen Union, der zum 1. Januar 2021 wirksam wurde, bestmöglich vorbereiten. Um negative Folgen für die Wirtschaft zu vermeiden, wurden als Nachfolgelösung unter Federführung des SECO neue Handelsabkommen mit den Briten verhandelt. Andere Bundesämter, das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten und die Schweizer Botschaft in London haben ebenfalls daran mitgearbeitet. Der Leiter der Verhandlungen Schweiz-UK im Handelsbereich, Thomas A. Zimmermann, spricht über die bereits gemeisterten Herausforderungen, noch zu regelnde Themen und die Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Staaten.

Welche Bereiche der Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich mussten nach der Ankündigung des Brexit am dringendsten geregelt werden?

Thomas A. Zimmermann: Mit dem Brexit ist das Vereinigte Königreich (UK) aus der Europäischen Union (EU) ausgetreten. Entsprechend musste für alle Bereiche, in denen unsere Beziehungen mit dem UK über bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geregelt waren, eine Nachfolgelösung gefunden werden. Für die Wirtschaftsbeziehungen am dringlichsten war dies beim Freihandelsabkommen (FHA) Schweiz-EU von 1972, da dieses Abkommen den zollfreien Handel von Industriegütern und eine teilweise Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Verarbeitungsprodukten vorsieht. Ohne ein Nachfolgeabkommen wären ab dem 1.1.2021 bei der Einfuhr von diesen Schweizer Gütern ins UK neu Zölle angefallen, ebenso bei der Einfuhr von Produkten aus dem UK in die Schweiz.

Für welche Bereiche gibt es bereits Abkommen zwischen den beiden Ländern?

Zimmermann: Die Bestimmungen des vorerwähnten FHA wurden in das Handelsabkommen Schweiz-UK von Februar 2019 überführt, welches am 1.1.2021 in Kraft getreten ist. Ziel war es, die Rechte und Pflichten, die bisher zwischen der Schweiz und dem UK als EU-Mitglied gegolten hatten, so weit wie möglich aufrecht zu erhalten. Ebenso wurden die Abkommen im Bereich des Agrarhandels, des öffentlichen Beschaffungswesens, der Betrugsbekämpfung, der gegenseitigen Anerkennung von Konformitätsbewertungen und der Zollsicherheit aus dem Verhältnis Schweiz-EU in das Handelsabkommen Schweiz-UK überführt. Zusätzlich konnten wir mit dem UK ein Abkommen über die Mobilität von Dienstleistungserbringern abschliessen. Daneben wurden im Einklang mit der "Mind-the-Gap"-Strategie des Bundesrates auch ausserhalb des Handels bilaterale Abkommen mit der EU auf das Verhältnis Schweiz-UK übertragen; etwa in den Bereichen Verkehr, Direkt- oder Sozialversicherungen.

Gibt es weitere Punkte, die zwischen den beiden Staaten noch diskutiert werden?

Zimmermann: Im Handelsbereich konnten die drängendsten Fragen geregelt werden. Allerdings gibt es vereinzelte Lücken. So konnten etwa die Erleichterungen unter dem Abkommen Schweiz-EU über die technischen Handelshemmnisse (MRA) nur teilweise mit dem UK fortgeführt werden. Der Grund liegt darin, dass das UK aus dem EU-Binnenmarkt ausgeschieden ist. Somit ist die Harmonisierung zwischen EU-Recht und UK-Recht als Grundlage für das als Binnenmarktabkommen konzipierte MRA nicht mehr gewährleistet.

Darüber hinaus gibt es zwischen unseren beiden Volkswirtschaften durchaus Potenzial für eine Weiterentwicklung. Wir haben deshalb Gespräche mit dem UK über eine Modernisierung unseres Handelsabkommens aufgenommen. Da das Handelsabkommen von 2019 im Wesentlichen ältere Abkommen in das bilaterale Verhältnis Schweiz-UK überführte, werden gewisse Themen nicht abgedeckt, die heute zum Standardrepertoire moderner Freihandelsabkommen gehören. Zu nennen sind etwa der Dienstleistungshandel und Investitionen, der Schutz des geistigen Eigentums oder auch Fragen der Nachhaltigkeit. Das Staatssekretariat für Internationale Finanzfragen SIF führt zudem Verhandlungen mit dem UK über ein Abkommen im Finanzdienstleistungsbereich.

Welche Auswirkungen hatte der Brexit auf die Schweizer Unternehmen?

Zimmermann: Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutet Brexit zunächst einmal Desintegration, was für die Unternehmen zumeist mit Nachteilen verbunden ist. Dank der zwischenzeitlich mit dem UK abgeschlossenen Abkommen konnten diese negativen Auswirkungen eingedämmt werden. Vorteile dürfte der Brexit für unsere Wirtschaft nur vereinzelt gebracht haben – etwa im Börsenbereich, wo die Schweiz und das UK ihre gegenseitigen Börsenbeziehungen normalisieren konnten.

Stehen Sie mit Unternehmen oder Wirtschaftsverbänden in Kontakt, für die die Beziehungen Schweiz-UK von Bedeutung sind?

Zimmermann: Ja, die Dienste des SECO stehen oft im Kontakt mit Verbänden und Unternehmen aus der Wirtschaft. Zu Beginn des Post-Brexit-Regimes, also ab 1.1.2021, wurden von den Unternehmen insbesondere Probleme bei der Ursprungskumulation an uns herangetragen. So war es eine Zeit lang nicht mehr möglich, beim Export von Schweizer Waren ins UK Vormaterial aus der EU anzurechnen, wodurch die zollfreie Behandlung unserer Ausfuhren teils in Frage gestellt war. Für dieses Problem konnten wir im Rahmen intensiver Verhandlungen mit unseren britischen Partnern rasch eine Lösung finden.

Wie sehen Sie die Zukunft der Handelsbeziehungen Schweiz-UK?

Zimmermann: Die Schweiz und das UK haben – bei allen Unterschieden – vieles gemeinsam: Beides sind hochentwickelte und offene europäische Volkswirtschaften, die zugleich nicht Teil der EU sind und eine autonome Aussenwirtschaftspolitik betreiben. Auch wenn die Interessen naturgemäss nicht in allen Bereichen gleichgelagert sind, sehen wir ein Potenzial für eine engere Zusammenarbeit. Dieses Potenzial wollen wir nutzbar machen – beispielsweise durch die vorerwähnte Modernisierung unseres Handelsabkommens.


Informationen

Zur Person

Thomas A. Zimmermann, Botschafter und Delegierter des Bundesrates für Handelsverträge

Botschafter Thomas A. Zimmermann, Dr. oec. HSG, leitet seit 2020 den Leistungsbereich Aussenwirtschaftliche Fachdienste im Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. In dieser Funktion verantwortet er die Verhandlungen Schweiz-UK im Handelsbereich. Er ist seit 2003 in verschiedenen Fach- und Führungsfunktionen für das SECO tätig.

Letzte Änderung 02.03.2022

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