"Jede Arbeit, die sich aus der Ferne verrichten lässt, ist potenziell betroffen"

Im Dienstleistungssektor erlauben die neuen Technologien, mehr und mehr Tätigkeiten auszulagern oder sogar zu ersetzen. Früher traf es die Arbeitsplätze in der Industrie, heute sind die Stellen von Übersetzern, Buchhaltern oder Finanzangestellten bedroht.

Die stark gestiegene Nutzung von Telearbeit und die Integration von Online-Tools, um während der COVID-19-Pandemie Aufgaben aus der Ferne zu erledigen, haben gezeigt, dass ein Grossteil der Berufe im Dienstleistungssektor nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden ist. Viele Aufgaben können von überall ausgeführt werden, sofern eine digitale Infrastruktur zur Verfügung steht. Dieses Phänomen hat Richard Baldwin schon 2019 in seinem Buch The Globotics Upheaval beschrieben. Der Wissenschaftler und Professor für Internationalen Handel am Hochschulinstitut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf erklärt, dieser Trend habe zur Folge, dass Beschäftigte im Dienstleistungssektor in den westlichen Ländern Konkurrenz von Arbeitnehmenden aus Ländern mit weniger hohen Arbeitskosten bekommen. Hinzu kommt die Entwicklung von Maschinen, die in der Lage sind, komplexe Prozesse auszuführen. Richard Baldwin analysiert diese Gefahr für die Büroberufe ("white collar") und zeigt, wie sich diese in den kommenden Jahren entwickeln werden.

Bis vor Kurzem war Delokalisierung vor allem in der Produktion ein Thema. Warum sind nun auch Dienstleistungen davon betroffen?

Richard Baldwin: Der Dienstleistungssektor tritt in eine Phase der Globalisierung ein, in der sich Industrie und Landwirtschaft schon lange befinden. Bis vor Kurzem konnten viele Dienstleistungen noch nicht ausgelagert werden, da diese Aufgaben komplexe Interaktionen zwischen Menschen erforderten. Die technologischen Fortschritte der letzten Jahre haben das Blatt gewendet: Heute ist es dank neuer digitaler Tools sehr wohl möglich, komplexe Informationen zu teilen und zu kommunizieren, selbst wenn sich der Kollege oder der Anbieter am anderen Ende der Welt befindet. Für ein Unternehmen in einem Land mit hohen Arbeitskosten wird es dann interessant, einige Aufgaben an Arbeitnehmer in Ländern zu delegieren, in denen diese Kosten geringer sind und das Bildungsniveau dennoch hoch. Ich denke dabei besonders an Indien, die Philippinen, Kenia oder Südafrika.

Dieses Phänomen wird nun durch einige Erfahrungen im Zuge der COVID-19-Pandemie verstärkt: Um Kosten zu senken, werden die Unternehmen immer mehr auf digitale Dienste zurückgreifen, die Telearbeit ermöglichen, sodass sie mit Arbeitnehmern auf der ganzen Welt zusammenarbeiten können.

Welche Berufe werden am stärksten betroffen sein?

Baldwin: Allgemein lässt sich sagen, dass jeder Beruf, den man im Homeoffice machen kann, potenziell bedroht ist. Heute gibt es spezielle digitale Plattformen, auf denen Arbeitnehmer aus aller Welt ihre Dienste für die Umsetzung komplexer Aufgaben in Bereichen wie Design, Übersetzung, Architektur, Finanzen oder Recht anbieten. Betroffen sind ausserdem Berufe, für die keine spezielle kulturelle Kompetenz vonnöten ist und kein tieferes Hintergrundwissen in Bezug auf lokale Besonderheiten.

Wie schlägt sich diese Umwälzung konkret auf den Arbeitsmarkt nieder?

Baldwin: Anders als bei den Auslagerungen in der Industrie, die zu Firmenschliessungen und Tausenden Arbeitslosen führen, sind die Folgen des Paradigmenwechsels im Dienstleistungssektor weniger sichtbar. Häufig werden Arbeitnehmer aus dem Ausland im Rahmen eines bestehenden Arbeitsprozesses herangezogen. Zum Beispiel kann eine Schweizer Anwaltskanzlei für einige Recherche- oder Verwaltungstätigkeiten digitale Arbeitskräfte beauftragen, während der Mandant immer noch einen Schweizer Anwalt vor sich hat. Der Mandant wird diese Veränderung gar nicht direkt mitbekommen.

Es gibt aber noch weitere Effekte: Für kleine und mittlere Unternehmen bieten digitale Plattformen einen kostengünstigen Zugang zu Software-Entwicklern, IT-Dienstleistern oder sogar Beratern, die irgendwo auf der Welt ansässig sind. Für bestehende KMU birgt das ein erhebliches Sparpotenzial und für neu gegründete Firmen die Chance, sich ohne zu hohe finanzielle Risiken weiterzuentwickeln.

Welche Folgen wird der Einsatz immer intelligenterer Maschinen für den Dienstleistungssektor haben?

Baldwin: Für die Beschäftigten in diesem Sektor bedeutet das eine zusätzliche Konkurrenz. Im Machine learning wurden in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt. Tools auf der Basis von Künstlicher Intelligenz können heute medizinische Diagnosen liefern, Anlageberatungen durchführen, Sprachen und Schriften erkennen, um Texte zu analysieren, sowie Empfehlungen für Tarife im Bereich Versicherungen abgeben, ohne dass jemand merkt, dass hier Maschinen am Werk sind. Zugleich sind Roboter in der Lage, extrem komplexe Aufgaben auszuführen, sodass Fabriken gebaut werden können, in denen nur wenige Menschen arbeiten. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Adidas mit seinen hoch automatisierten "Speedfactories", in denen pro Jahr 500'000 Paar Schuhe produziert werden, obwohl dort nur 200 Menschen arbeiten.

Wie lässt sich verhindern, dass die Beschäftigten im Dienstleistungssektor arbeitslos werden?

Baldwin: Leider neigen die neuen Technologien eher dazu, Arbeitsplätze verschwinden zu lassen oder auszulagern, anstatt neue zu schaffen. Langfristig bin ich aber trotzdem optimistisch. Während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war der Übergang von den Agrarberufen zu den neu entstehenden Berufen in der Industrie sehr hart. Die Berufe der Zukunft werden hingegen wahrscheinlich den heutigen Tätigkeiten im Dienstleistungssektor ähneln, wobei der Schwerpunkt eher auf zwischenmenschlichem Austausch, Interdisziplinarität oder Kreativität liegen wird. Um diesen Wandel zu erleichtern, müssen die Regierungen Systeme zur beruflichen Umschulung und Weiterbildung sowie einen finanziellen Ausgleich einführen.


Informationen

Zur Person/Firma

Richard Baldwin, Professor am IHEID

Richard Baldwin ist seit 1991 Professor für Internationales Handelsrecht am Hochschulinstitut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf und heute zudem Chefredakteur des Online-Magazins Vox. Er war unter anderem von 2014 bis 2018 Präsident des Center for Economic and Policy Research in London. In der Bush-Administration war Richard Baldwin von 1990 bis 1991 als Ökonom tätig. Er berät Regierungen und internationale Organisationen weltweit und ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu internationalem Handel, Globalisierung und europäischer Integration.

Letzte Änderung 02.12.2020

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