"Die KI ist für KMU eine echte Chance"

Künstliche Intelligenz ist nicht allein den grossen Konzernen vorbehalten. Sie kann auch für kleinere Firmen von Interesse sein. Erläuterungen.

Die kleinen und mittleren Unternehmen nutzen die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz (KI) bisher nur wenig. Die angewandte Forschung, die auf massgeschneiderte betriebliche Lösungen ausgerichtet ist, eröffnet ihnen jedoch vielversprechende Perspektiven, wie Laurent Sciboz, Professor an der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) und Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR), Konsultativorgan des Bundesrates, erläutert.

Viele meinen, Lösungen auf der Basis von künstlicher Intelligenz seien nur etwas für die Grosskonzerne. Was können sie kleineren Unternehmen bieten?

Laurent Sciboz: Seit rund zwanzig Jahren bringt die zunehmende Informatisierung der Gesellschaft die meisten Unternehmen dazu, über die Produkte und Dienstleistungen, die sie anbieten, immer grössere Mengen an Informationen zu sammeln und anzuhäufen. Diese Masse an Daten ist allerdings ein Rohstoff, der mangels geeigneter Werkzeuge weitgehend ungenutzt bleibt... Die künstliche Intelligenz eröffnet den KMU die Möglichkeit, sie deutlich präziser und effizienter zu nutzen.

Die Herausforderung ist immer dieselbe: Man muss festlegen, auf welche Art und Weise man Rohdaten in Informationen und schliesslich in Wissen umwandeln will, um den Service, der dem Kunden oder Nutzer täglich geboten wird, zu verbessern. Diese Unternehmen zu begleiten, ist die Aufgabe von Organisationen wie unserer. Schon seit etwa fünfzehn Jahren entwickelt das Institut Wirtschaftsinformatik der HES-SO Valais-Wallis in engem Kontakt mit einigen KMU betriebliche Lösungen, die auf neuronalen Netzen und Machine Learning beruhen. Gegenwärtig begleiten wir mehr als 340 Projekte mit Unternehmen in allen Kantonen der Westschweiz.

In welchen Branchen erscheint der potenzielle Gewinn durch KI am grössten?

Sciboz: Der Bereich eHealth ist sicher einer derjenigen mit dem grössten Bedarf, aber es betrifft alle Branchen, vom Tourismus über die öffentliche Verwaltung, die Industrie 4.0, die Uhren- und Präzisionsindustrie und ERP bis hin zur Landwirtschaft... Die Energie ist ebenfalls ein Schlüsselbereich, egal ob es um die Erzeugung, die Speicherung, die Verteilung oder den Verbrauch geht. So haben wir Akteure begleitet, die auf den Kauf und Verkauf von Energie auf dem Intraday-Markt spezialisiert sind, der den Betreibern der Strombörse ermöglicht, über den ganzen Tag hinweg die Kauf- und Verkaufspreise neu auszuhandeln. Indem man eine Vielzahl von Variablen (von der Wettervorhersage bis zum Verhalten der Konsumenten) aus vergleichbaren Zeiträumen einbezieht und interpretiert, kann man sich Prognosesysteme vorstellen, die in der Lage sind, die Kursentwicklung vorherzusagen und so jedes Jahr Gewinne von mehreren Millionen Franken zu machen.

In der Öffentlichkeit ist das Bild der künstlichen Intelligenz zuweilen zwiespältig. Bewirkt dieses Misstrauen, dass einige Firmenchefs davor zurückschrecken?

Sciboz: Die meisten der Projekte, die wir mit den KMU entwickeln, beruhen auf Lösungen, die immer ein manuelles Eingreifen durch den Menschen beinhalten. Die medizinische Bildgebung ist dafür ein anschauliches Beispiel. Algorithmen, mit denen sich Röntgenaufnahmen und Bilder aus einem MRT oder Scanner analysieren lassen, sind im Laufe der letzten fünf Jahre immer effizienter geworden. Die Entwicklung immer leistungsfähigerer Grafikkarten und die Akkumulation immer umfassenderer Datensätze machen daraus sehr zuverlässige Instrumente der Vordiagnostik. Dennoch bleibt der Radiologe Herr über seine Diagnose. Genauso ist es auch auf dem Energiemarkt: Die künstliche Intelligenz ist eine extrem leistungsstarke Entscheidungshilfe, aber die Entscheidungen trifft am Ende ein Mensch.

KMU verfügen nicht immer über die notwendigen Mittel, um ihre eigenen Lösungen zu entwickeln? Was macht man dann?

Sciboz: Im Bereich der künstlichen Intelligenz ist es für die KMU-Chefs zwingend notwendig, dass sie sich auf kompetente Expertenteams stützen können, indem sie mit entsprechenden Forschungsinstituten kooperieren. Die Förderung von Innovationsprojekten durch eine Struktur wie Innosuisse kann ihnen dabei helfen, die Investitionen gering zu halten und zugleich von einer gezielten Begleitung zu profitieren, die auf ihre Verpflichtungen, ihre Märkte, ihre Kunden und ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.

Auf der Basis dieser Nähe kann ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden: Institute wie unseres haben zum Ziel, den Wissens- und Technologietransfer zwischen den Hochschulen und der Wirtschaft zu fördern, indem sie binnen einiger Monate einsatzfähige Lösungen entwickeln. Diese Arbeitsweise führt zu ausgezeichneten Ergebnissen, sofern dabei ein wirklich enger Kontakt besteht.

Wenn wir die Zusammenarbeit mit einem KMU beginnen, besteht der erste Schritt darin, dass wir uns in die Firmenräume begeben, um das Geschäftsmodell und die Art der Wertschöpfung zu verstehen, uns mit den Maschinen und der Ausrüstung vertraut zu machen, uns Zeit zu nehmen, um die Bedürfnisse zu begreifen, verschieden Arbeitsansätze zu identifizieren usw. Dank dieses sehr menschlichen und massgeschneiderten Austauschprozesses können wir zu effizienten Lösungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz gelangen.


Informationen

Zur Person/Firma

Laurent Sciboz, Institut Wirtschaftsinformatik an der HES-SO

Laurent Sciboz ist Professor an der HES-SO, wo er für die Abteilung eServices zuständig ist und das Institut Wirtschaftsinformatik leitet. Dort arbeiten etwa einhundert Forschende sowie Expertinnen und Experten für die digitale Transformation der Wirtschaft. Jedes Jahr werden rund hundert anwendungsorientierte Forschungsprojekte durchgeführt. Seine Fachgebiete sind das Management von Informationssystemen, digitale Innovation und Software Engineering. Er war zehn Jahre lang bei der Europäischen Kommission als Experte für die Forschungsrahmenprogramme tätig und leitet auch das auf das Internet der Dinge spezialisierte Forschungsinstitut Icare in Sierre. Seit 2015 ist er zudem Mitglied im Forschungsrat der HES-SO. Ferner sitzt er in mehreren Jurys zur Bewertung von digitalen Innovationsprojekten von Schweizer Spin-offs und Start-ups.

Letzte Änderung 17.06.2020

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