"Arbeitsflexibilisierung: Zunehmende Individualisierung muss auch mal abgelehnt werden"

Für immer mehr Beschäftigte passt es nicht mehr zu ihren Wünschen, 100% ihrer Arbeitszeit am selben Ort zu verbringen. Wie kann man auf diesen Trend reagieren? Ein Experte gibt Tipps.

Homeoffice, Teilzeit: Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer wünschen sich individualisierte Arbeitsbedingungen. Einige wollen ihre Arbeitszeit reduzieren, um nebenbei ein anderes berufliches Projekt zu verfolgen, andere möchten mehr Freizeit für ein Ehrenamt oder um sich persönlich zu entfalten. In Verbindung mit dem Fachkräftemangel bringt diese Situation verschiedene Herausforderungen für die KMU mit sich. Wie müssen sie sich an die neuen Anforderungen anpassen? Ein Interview mit Marius Gerber, Leiter der Fachstelle Human Capital an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Wo stehen die Schweizer Unternehmen heute in Bezug auf Flexwork?

Marius Gerber: Etwa 40% der Schweizer Arbeitnehmenden machen von zeitlich und örtlich flexiblen Arbeitsbedingungen Gebrauch. Das Ausmass und die Möglichkeiten hängen jedoch stark von der Unternehmensgrösse, der Branche und der Art der Arbeitstätigkeit ab. Und der Wunsch der Arbeitnehmenden nach flexiblen Arbeitsbedingungen ist gross, insbesondere nach den positiven Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Zu beachten ist aber, dass es kein einheitliches Verständnis von Flexibilisierung gibt und diese beispielsweise auch mit der Organisationsform verbunden sein kann.

Wie sollen Unternehmen auf die Forderungen von Beschäftigten reagieren, die sich flexible Arbeitsbedingungen wünschen?

Gerber: Man muss sich proaktiv damit auseinandersetzen: Inwiefern lässt die betriebliche Realität dies zu? Steht diese Möglichkeit im Einklang mit der eigenen aktuellen und gewünschten Kultur sowie den gesetzlichen Rahmenbedingungen? Der heutige Arbeitsmarkt verlangt von den Unternehmen gewiss Anpassungsfähigkeit. Es gilt, unternehmensspezifische Lösungen zu finden, die sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeitenden wie auch die Unternehmensziele berücksichtigen. Ein Beispiel wäre es, die Bürozeiten so zu gestalten, dass der Wunsch bestimmter Kunden nach persönlicher Beratung erfüllt wird und zugleich das Bedürfnis der Angestellten, von zu Hause zu arbeiten, Berücksichtigung findet. Und nicht alle Mitarbeitenden wollen unbedingt mehr Autonomie.

Wie wirkt sich Homeoffice auf die Produktivität aus? Können Sie die Ergebnisse Ihrer Studie zu diesem Thema vorstellen?

Gerber: Unsere Studie "Functions and relevance of spatial co-presence" (Funktionen und Relevanz gleichzeitiger räumlicher Anwesenheit) wurde in einem Schweizer IT-Unternehmen durchgeführt und deckt sich in ihren Ergebnissen mit anderen Studien.  Unsere Studie während der Covid-Pandemie hat gezeigt, dass die Produktivität im Homeoffice nicht sinkt, im Gegenteil. Möglicherweise handelt es sich dabei aber um einen kurzfristigen Effekt: Zusammenarbeit, Zugehörigkeit, aber auch Gesundheit und Leistungsfähigkeit können mittelfristig negativ beeinflusst werden. Es ist kein Zufall, dass viele Unternehmen ihre Mitarbeitenden wieder ins Büro holen. Die Funktion des Büros wird neu überdacht, die Zusammenarbeit vor Ort gezielter geplant. Es muss für die Mitarbeitenden wieder attraktiv und anregend sein, ins Büro zu kommen.

Ist flexible Arbeit zu einem Wettbewerbsvorteil für Unternehmen geworden?

Gerber: Grundsätzlich ja. Flexibles Arbeiten wird für die Stellensuchenden zunehmend wichtiger und kann in einigen Branchen bald nicht mehr als Wettbewerbsvorteil, sondern als must have angesehen werden. Wer heute als Arbeitgeber attraktiver werden will, muss weiterdenken und offen für Veränderungen und auch mal Experimente sein. Anpassungen im Bereich der Arbeitsbedingungen können auch eine bestimmte Art von Management oder eine besondere Unternehmenskultur sein und sie müssen sich nicht unbedingt auf infrastrukturelle Aspekte beziehen oder viel kosten.

Was sind die grössten Herausforderungen, auf die Organisationen achten müssen?

Gerber: Es ist wichtig, die eigene Kultur zu wahren und bewusst weiterzuentwickeln. Es lohnt sich nicht, blind jedem Trend hinterherzulaufen oder stereotypen Schubladisierungen wie "Generation Z" zu folgen. Zunehmende Individualisierung und Anspruchshaltungen müssen im Sinne des sozialen Zusammenhalts im Unternehmen oder zum Selbstschutz der Mitarbeitenden auch mal abgelehnt werden.

Diese neuen Organisationsformen stellen KMU vor besondere Herausforderungen. Gibt es Strategien, die auf ihre Situation zugeschnitten sind?

Gerber: Gerade für KMU und abhängig von der Branche sind die Spielräume und Ressourcen für Flexibilisierungsmöglichkeiten oft begrenzt. Es gibt auch keine allgemeingültigen Lösungen. KMU können beispielsweise durch gezielten Ressourceneinsatz, kompetenzförderliche Arbeitsgestaltung oder schrittweises Ausprobieren ihr Personalmanagement optimieren und an Arbeitgeberattraktivität gewinnen. Egal welche Organisationsform man wählt, am Ende geht es um Haltungen und Einstellungen. Das Menschliche wird durch die Digitalisierung und das Aufkommen von KI zu einem Wettbewerbsvorteil und Differenzierungsmerkmal. 


Informationen

Zur Person/Firma

Marius Gerber, Leiter der Fachstelle Human Capital an der ZHAW

Dr. Marius Gerber leitet die Fachstelle Human Capital an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Als HR-Experte mit langjähriger Praxiserfahrung forscht und begleitet er Unternehmen im Bereich Kompetenz- und Talentmanagement. An der ZHAW leitet er die weiterbildenden Studiengänge CAS Personalentwicklung und CAS Human Capital Analytics & Innovation. Er ist Vizepräsident des Vereins Swiss HR Analytics.

Letzte Änderung 24.01.2024

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