"Geiz und Dumping sind nicht geil"

Die neue Regelung zum öffentlichen Beschaffungswesen relativiert die Bedeutung des Preises zugunsten der Qualität. Die Schlagworte des neuen Vergaberechts lauten: Qualität, Innovation und Nachhaltigkeit.

Am 1. Januar 2021 tritt das totalrevidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) in Kraft. Demnach soll in Zukunft nicht mehr das wirtschaftlich günstigste, sondern das vorteilhafteste Angebot den Zuschlag erhalten. Zugleich ändern sich die Zuschlagskriterien, nach denen öffentliche Auftraggeber ihre Anbieter auswählen. Lebenszykluskostenansatz und Nachhaltigkeit bringen einen Schritt Richtung Vollkostenrechnung. Dazu kommt, dass die Totalrevision des Beschaffungsrechts eine Harmonisierung der öffentlichen Beschaffungspraxis mit sich bringen wird. Die neuen Regeln sollen mittelfristig für alle föderalen Ebenen Geltung haben. Der Bund macht den ersten Schritt. Im Interview erklärt Rechtsanwalt Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht, was das neue Gesetz für KMU bedeutet und wie sie sich darauf einstellen können.

Welche Bedeutung haben Beschaffungen der öffentlichen Hand generell für die Wirtschaft, insbesondere für KMU?

Marc Steiner: Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass sich das jährliche Volumen der öffentlichen Aufträge auf über CHF 40 Milliarden beläuft. Der Hauptteil dieser Summe wird von Seiten der Kantone und Gemeinden ausgegeben. Der Bund kommt für etwa einen Fünftel dieses Betrags auf. Besonders wichtig ist der öffentliche Einkauf für KMU aus der Baubranche, denn private Akteure investieren nicht in Grossprojekte wie Tunnel oder den Bau von Autobahnen. Andere Branchen profitieren jedoch auch von öffentlichen Beschaffungen. Als Beispiel seien KMU aus der Textilbranche oder etwa IT-Dienstleister genannt.

Welche Neuerungen sind Ihrer Meinung nach diejenigen mit der grössten Tragweite?

Steiner: Als Erstes ist die Harmonisierung des Vergaberechts zwischen Bund und Kantonen eine sehr wichtige Neuerung. Das alte Vergaberecht führte wegen der Rechtszersplitterung zu hohen Kosten auf Seiten der KMU, die Angebote je nach Kanton auf die jeweiligen Rechtsvorschriften abstimmen mussten. Diese Harmonisierung wird durch die neue Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) vom 15. November 2019 erreicht werden.

Dann ist natürlich die Abkehr von der "Geiz ist geil"-Mentalität von ausserordentlicher Bedeutung. Die Auswahl der Angebote gemäss Kriterien wie Nachhaltigkeit oder Innovationskraft setzt dem neo-liberalen Paradigma der 90er-Jahre, wonach vor allem Marktöffnung, Wettbewerb und der Preis ausschlaggebend seien, ein Ende. Die Schweiz hatte im Unterschied zur EU, die ihrerseits 2014 eine Richtlinie verabschiedet hat, in der der Primat der Qualität der Produkte und Services bei öffentlichen Ausschreibungen festgeschrieben wurde, eigentlich schon nach geltendem Recht die Möglichkeit, die Bedeutung der Qualität zu betonen, was aber zu wenig gemacht wurde.

Was waren die Auswirkungen der alten Praxis?

Steiner: Zum einen hat die Gewichtung des Preises zu Dumping-Phänomenen geführt, was die Verlagerung bestimmter Arbeitsschritte ins Ausland oft zu Lasten der Umwelt und der Einhaltung von sozialen Standards mit sich bringt. Dazu kommt, dass die Priorisierung des Preises viele Anbieter dazu veranlasst hat, ihre besten Produkte und Services nicht in das Angebot aufzunehmen, da diese den Preis nach oben getrieben hätten. Die Folge: Bei öffentlichen Beschaffungen kamen teilweise Standardlösungen zum Einsatz, wo intelligentere Lösungen den Bedürfnissen der Auftraggeberseite besser entsprochen hätten. Zusammenfassend kann man deshalb sagen, dass die Konzentration auf den Preis Innovationen gebremst hat. Der Qualitätswettbewerb dient der Innovation eher als der Preiswettbewerb.

Wie wird sichergestellt, dass die Qualitätskriterien objektiv bewerten werden können?

Steiner: Es ist natürlich richtig, dass es einfacher ist, Preise zu vergleichen, als Entscheidungen aufgrund von Kriterien wie "Qualität" oder "Innovationsgehalt" zu treffen. Umso wichtiger wird es deshalb sein, dass transparent umschrieben wird, was jeweils mit "Qualität" und "Nachhaltigkeit" gemeint ist und worauf es der Vergabestelle bei der "Innovation" ankommt. Zertifikate, die etwa die Einhaltung bestimmter sozialer oder ökologischer Standards bezeugen, können eine Hilfestellung sein. Darüber hinaus wird es aber wichtig sein, auftraggeberseitig das nötige Know-how bereitzustellen, um die Qualität differenzierend beurteilen zu können. Man muss den Leuten ehrlich sagen, dass die neue Vergabepraxis mehr Zielkonflikte und Komplexität und damit Ausbildungsbedarf mit sich bringt. Das gilt sowohl für den Qualitätswettbewerb als auch für die systematische Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsgesichtspunkten. Das ist aber auch eine Chance, weil es für diese neue Nachfrage auch im privaten Sektor einen Markt gibt, für den die KMU fitter werden.

Wie können sich KMU auf die neue Vergabepraxis einstellen?

Steiner: Ungewöhnlich niedrige Angebote werden von der Auftraggeberseite neu zwingend besonders unter die Lupe genommen werden. Es entsteht also ein Anreiz zu reellerer Kalkulation der Angebote. Dann kann es sein, dass bei sozialen und ökologischen Mindeststandards die Selbstdeklarationen nicht mehr reichen. Gerade in Risikobranchen wie der IT- und Textilbranche werden neue Anforderungen sowohl in Bezug auf die Transparenz der Lieferketten als auch in Bezug auf die vertragliche Überbindung der Verpflichtungen durch die Lieferkette gestellt werden. Es werden wohl auch häufiger Audits stattfinden, wobei bereits im Rahmen der Ausschreibungsunterlagen das Einverständnis der Anbietenden mit unangemeldeten Audits abgefragt werden wird. Deshalb ist es im Bedarfsfall wichtig, dass auch KMU von ihren Lieferanten gewisse Angaben erhältlich machen können. Zudem ist es unbedingt ein Vorteil, wenn die KMU Kompetenzen schaffen oder ausbauen, um die Qualität der Produkte oder Services umfassend beschreiben zu können sowie deren Innovationspotenzial zu erfassen.

Da auch die Auftraggeberseite diese neue Vergabekultur erst verinnerlichen muss, sind namentlich KMU darauf angewiesen, dass ihre Branchenverbände aktiv werden, um mit den öffentlichen Stellen mit hohem Einkaufsvolumen in Kontakt zu treten mit dem Ziel, dass die neuen Vergabekriterien für alle Beteiligten nachvollziehbar angewendet werden.


Informationen

Zur Person/Firma

Marc Steiner, Rechtsanwalt

Marc Steiner ist Rechtsanwalt und amtet seit Januar 2007 als Richter am Bundesverwaltungsgericht. Die Abteilung, welcher er angehört, befasst sich mit Fällen aus den Bereichen Vergabe-, Marken- und Kartellrecht. Im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments zum Thema "Modernisierung der öffentlichen Auftragsvergabe" vom 24. Mai 2011 ist er als Experte beigezogen worden. Marc Steiner ist einer von vier Autoren der 2013 in dritter Auflage erschienenen "Praxis des öffentlichen Beschaffungsrechts". Am 6. Dezember 2019 hat er anlässlich des Climate Law and Governance Day in Madrid zu einem Panel zur nachhaltigen öffentlichen Beschaf­fung beigetragen.

Letzte Änderung 18.11.2020

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