"Holokratie heisst nicht Demokratie im Unternehmen"

Wird das KMU von morgen keinen CEO mehr haben? Welche Anpassungen sind notwendig, um auf eine Geschäftsführung verzichten zu können? Erläuterungen von Sibylle Olbert-Bock. 

2016 war bei dem Zürcher KMU Freitag das Jahr der Wende. Die beiden Brüder gaben ihre Chefsessel und die damit verbundene Pyramidenstruktur auf und ersetzten sie durch die Holokratie. Dieser neue Trend als Form des horizontalen Managements beruht auf einem System kommunizierender Kreise, die Rollen entsprechen, welche jedem Mitarbeiter nach seinen Kompetenzen zugeteilt werden. Mit mehr Verantwortung und weniger Kontrolle sollen die Mitarbeitenden zufriedener sein und bessere Ergebnisse erzielen. Passt dieses Modell zu jedem Unternehmen? Welche Massnahmen muss man einführen, damit es funktioniert? Antworten von Sibylle Olbert-Bock, Professorin und Leiterin des Kompetenzzentrums "Leadership und Personalmanagement" an der FHS St. Gallen. 

Ist die Holokratie eine Revolution im Management oder ein Hirngespinst?

Sibylle Olbert-Bock: Alternativen zu den traditionellen hierarchischen Strukturen sind schon vor rund zwanzig Jahren entstanden. Das Empowerment-Konzept, das den Beschäftigten mehr Verantwortung übertragen soll, kann als eine der Vorformen der Holokratie angesehen werden. Es handelt sich also nicht um eine Revolution im eigentlichen Sinne. Es ist aber noch zu früh, um zu sagen, ob dieses System langfristig tatsächlich lebensfähig ist. Wir haben noch nicht genug Abstand. Es sieht allerdings so aus, als sei dieses Modell stärker auf die zu erreichenden Ziele fokussiert als auf die zwischenmenschlichen Aspekte. Es ist leicht, den Mitarbeitern Verantwortung zu übertragen, wenn sich ein Unternehmen im Wachstum befindet, aber wer ist verantwortlich, wenn es Probleme gibt? Das kann Spannungen erzeugen. 

Mehrere Schweizer Unternehmen haben sich von diesem Modell überzeugen lassen. Es muss also doch einige Vorteile geben.

Olbert-Bock: Ja, natürlich. Die Einbeziehung der Mitarbeiter nach ihren Kompetenzen ermöglicht es ihnen, sie optimal einzusetzen und komplexe Herausforderungen schneller zu lösen. Diese Struktur ist extrem flexibel, die Unternehmen passen sich rascher an ihre Umwelt an. 

Der Schweizer Taschenhersteller Freitag hat 2016 beschlossen, fortan auf einen CEO zu verzichten. Ist das ein Zeichen, dass der Tod dieser Funktion bevorsteht?

Olbert-Bock: Sicher nicht. Es wird immer erfolgreiche Firmen mit einem CEO an der Spitze geben. Der Erfolg eines Konzepts hängt nicht nur von der Art des Managements ab, sondern auch von der Art des Marktes sowie dessen Grösse und Wachstum. Die Holokratie passt nicht zu allen Industrien. In einem hochstandardisierten Unternehmen mit vielen Maschinen und wenig Angestellten ist es zum Beispiel nicht sinnvoll, dieses System einzuführen. Und man darf auch nicht vergessen, dass einige Chefs Lust oder ein Bedürfnis danach haben, das Projekt, das sie aufgebaut haben, auch weiterhin zu steuern. 

Welche Investitionen muss man tätigen, um den Erfolg eines solchen Modells zu sichern?

Olbert-Bock: Man muss mehr Zeit und mehr Geld investieren, gerade in Firmen, die schon lange mit einem traditionellen hierarchischen System arbeiten. Um die Führungskräfte bei diesem Übergang zu begleiten, ist Hilfe von aussen sicher unverzichtbar. Die Rolle des Coachs besteht dann darin, die Beschäftigten sanft und nachhaltig mit den neuen Prinzipien vertraut zu machen. 

Kann die Holokratie auf alle Arten von Unternehmen unabhängig von ihrer Grösse angewendet werden?

Olbert-Bock: Es geht weniger um die Grösse der Organisation als um die Dauer ihres Bestehens. Wie lange ist das traditionelle Managementsystem dort schon etabliert? Das ist die entscheidende Frage. Je länger sich die Gewohnheiten mit der Zeit verfestigt haben, desto schwieriger wird es, sie zu verändern. Auch die Höhe der Investitionen, die innerhalb des Unternehmens getätigt wurden, muss berücksichtigt werden. Man wird eher dazu neigen, den Mitarbeitern die Verantwortung zu übertragen, wenn das Risiko finanzieller Verluste gering ist. 

Welche Fehler sollte man vermeiden?

Olbert-Bock: Holokratie heisst nicht Demokratie im Unternehmen. Das ist eine wichtige Botschaft, die man den Mitarbeitern vermitteln muss, damit es nicht zu Unverständnis und Frustration kommt. Das Modell beruht darauf, dass in Abhängigkeit der jeweiligen Kompetenzen bestimmte Rollen zugewiesen werden. Auch wenn es mehr Eigenverantwortung und weniger Kontrolle gibt, steht jeder weiterhin unter dem Einfluss von Entscheidungen, denen er nicht unbedingt widersprechen kann. Die Gestaltung der Rollen ist ebenfalls ein wichtiges Moment. Man muss darauf achten, dass die unerfreulichsten Aufgaben zwischen allen harmonisch aufgeteilt werden. 

Dieses Managementsystem beinhaltet ja, dass die Zuständigkeiten zwischen den Beschäftigten neu verteilt werden. Wie kann man diese am besten darauf vorbereiten?

Olbert-Bock: Neben dem guten Zustand des Unternehmens und der verfügbaren Zeit ist die Transparenz der Informationen bei der Einführung eines solchen Konzepts der Schlüssel zum Erfolg. Die Rolle des Top-Managements ist dabei essenziell. Es ist unabdingbar, dass es sich die Zeit nimmt, Diskussions- und Reflexionsrunden mit den Kadern zu veranstalten, dass es sie in den Prozess einbezieht und es schafft, sie davon zu überzeugen, dass diese Umstellung gut durchdacht ist. Wenn sie sich diesen Prinzipien nicht anschliessen können, wird es für sie schwierig sein, die übrigen Angestellten zu motivieren. Auch deshalb ist es wichtig, alles von einem externen Organ langfristig begleiten zu lassen und Schulungen zu organisieren. Trotz allem werden einige Personen die neuen Werte nicht teilen und es kann sein, dass sie das Unternehmen verlassen. Eine Optimierung des Rekrutierungsverfahrens ist daher entscheidend.


Informationen 

Zur Person/Firma

Sibylle Olbert-Bock, Leiterin des Kompetenzzentrums "Leadership und Personalmanagement" an der FHS St. Gallen.

Nach ihrem Studium der Wirtschaftspädagogik an der Universität Mannheim promovierte Sibylle Olbert-Bock an der Universität Karlsruhe über Lernprozesse bei Veränderungen in Unternehmen. Seit 2007 leitet sie das Kompetenzzentrum "Leadership und Personalmanagement" an der FHS St. Gallen. Ihre Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Personal- und Karriereentwicklung.

Letzte Änderung 17.10.2018

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